Stellungnahme -

ifo Standpunkt Nr. 210: Über die Zukunft Europas: Es ist an der Zeit, mehr europäische öffentliche Güter bereitzustellen

03.12.2019

Die EU hat ein neu gewähltes Parlament und eine neue Kommission. Was ist die politische Strategie für die kommenden Jahre? Traditionell lag der Schwerpunkt der EU-Politik auf der wirtschaftlichen Integration, beispielsweise durch den Binnenmarkt, den Euro oder die Bankenunion. Der EU-Haushalt ist klein und wird immer noch größtenteils für die Landwirtschaft und für Transfers in ärmere Regionen ausgegeben. Fast siebzig Jahre nach der Gemeinschaft für Kohle und Stahl wird diese Fokussierung jedoch zunehmend fragwürdig. Die europäische Integration bringt Vorteile, und Rückschritte sind mit Kosten verbunden, aber sie allein ist keine ausreichende Antwort auf die Herausforderungen, vor denen Europa heute steht.

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Die Zeiten ändern sich: Der Wettlauf um neue Technologien verschärft sich; Europa kann sich nicht mehr auf die USA verlassen; die globale Rivalität zwischen den USA und China verändert die internationalen Beziehungen; nationale Migrationspolitiken sind unzureichend; es ist notwendig, den Klimaschutz effektiver zu gestalten. Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert eine neue Arbeitsteilung zwischen der europäischen und der nationalen Ebene.

Die Antwort auf diese Herausforderungen liegt nicht in ‚mehr Europa‘, sondern darin, Politikbereiche zu identifizieren, in denen europäische Bereitstellung öffentlicher Güter Mehrwert erzeugt. Die EU sollte in den Politikbereichen mehr tun, in denen sie mehr leistet als die Mitgliedstaaten, wenn sie einzeln handeln. Dies ist der Fall, wenn Größenvorteile wichtig sind oder wenn Auswirkungen der Politik in einem Land andere Länder stark beeinflussen.

Wo sind europäische öffentliche Güter sinnvoll?

Ein Bereich, in dem die EU bereits über Zuständigkeiten verfügt, aber mehr tun sollte, sind die internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Es ist an der Zeit, die offiziell eher neutrale Position gegenüber der internationalen Rolle des Euro aufzugeben. Die internationale Nutzung des Euro sollte attraktiver gemacht werden. Das erfordert allerdings die Gewährung von Liquiditätshilfen an Zentralbanken anderer Länder und die gemeinsame Entwicklung von sicheren und liquiden Anlagemöglichkeiten in Euro. In der Investitionspolitik sollte die EU in Fällen, in denen die EU-weite Sicherheit bedroht ist, die Befugnis haben, ausländische Investitionen mit qualifizierter Mehrheit zu blockieren.

Bei der Reduzierung des Klimawandels wird das Potenzial für gemeinsame Maßnahmen nicht vollständig genutzt. Ohne auf ein europäisches CO₂-Steuersystem zu warten, sollte die EU in der Lage sein, mit qualifizierter Mehrheit verbindliche Korridore für die CO₂-Preise festzulegen. Dies würde es ihr ermöglichen, ihren internationalen Verpflichtungen zu möglichst geringen Kosten nachzukommen.

Cyberangriffe machen nicht an nationalen Grenzen halt. Die EU muss ihre Ressourcen bündeln, um die Cybersicherheit zu garantieren und sicherzustellen, dass sie in der Lage ist, ihre digitale Infrastruktur zu schützen. Unserer Meinung nach sollte dringend eine hochrangige Expertengruppe beauftragt werden, eine Strategie zur Sicherung der digitalen Souveränität Europas vorzuschlagen.  

Technologieführerschaft erfordert Spitzenforschung. Eine europäische DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) sollte sich ausschließlich auf wegweisende Forschungsprojekte konzentrieren – ohne Rücksicht auf die Verteilung auf die einzelnen Mitgliedstaaten – und in der Lage sein, erfolglose Projekte abrupt zu beenden.

Flüchtlinge kommen nach Europa, und nicht in einen bestimmten Mitgliedstaat. Eine dauerhafte Lösung sollte ein gemeinsames Grenzschutzsystem, einen gemeinsamen Rechtsrahmen für Asyl, gemeinsame Grundsätze für die Zuteilung von Personen, denen Asyl gewährt wurde, und gemeinsame Politiken für die Rückführung von Personen, denen die Einreise verweigert wurde, umfassen. Der Schengen-Raum ohne interne Grenzkontrollen muss letztlich auch eine gemeinsame Migrationspolitik haben.

Die Entwicklungszusammenarbeit und die finanzielle Unterstützung von Drittländern ist ein weiterer Politikbereich mit starken Synergieeffekten und Größenvorteilen. Die chinesischen Bemühungen auf diesem Gebiet sind ein zusätzlicher Grund dafür, dass Europa gemeinsam handelt. Die EU sollte das Mandat der Europäischen Investitionsbank erweitern und ihre Beteiligung an der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung stärker nutzen.  

Europa sollte auch in den Bereichen Außenpolitik und Außenvertretung sowie militärische Beschaffung und Verteidigung zusammenarbeiten. Die Vorteile einer europäischen Außenpolitik liegen auf der Hand, aber es gibt erhebliche politische Differenzen unter den Mitgliedstaaten. Initiativen zur Stärkung der europäischen "Soft Power", eine auf Einsparungen ausgerichtete Zusammenarbeit bei Dienstleistungen von Botschaften und Konsulaten sowie regelmäßige Weißbücher zur europäischen Außenpolitik wären konkrete Maßnahmen, um Fortschritte zu erzielen. Für die europäische Verteidigung sollten Anstrengungen in Richtung gemeinsamer Beschaffung, gemeinsamer Infrastrukturen, gemeinsamer Waffenexportpolitik und gemeinsamer Verteidigungsinitiativen unternommen werden.

Drei Hebel zur Verbesserung der Implementierung

All dies zu erreichen, wird nicht einfach sein. Erstens erfordert die verstärkte Bereitstellung europäischer öffentlicher Güter eine Finanzierung. Sie sollte die Gesamtsteuerbelastung für die EU-Bürger nicht erhöhen, sondern Ressourcen auf die europäische Ebene verlagern. Es gibt eine laufende Debatte über neue Finanzierungsinstrumente für den EU-Haushalt. Aber die Bereitstellung europäischer öffentlicher Güter würde sich verzögern, wenn sie mit einer Reform der EU-Finanzen verbunden wäre. Vorläufig sollten neue europäische öffentliche Güter durch höhere Beiträge der Mitgliedstaaten (BNE-Eigenmittel) finanziert werden.

Zweitens ist ein Handeln auf EU-Ebene nur möglich, wenn die Interessen der Mitgliedstaaten nicht zu sehr divergieren. In Politikbereichen, in denen sie zu unterschiedlich sind, werden einige Länder vorangehen und andere später folgen oder auch nicht. Deutschland und Frankreich sollten bei Bedarf bilaterale Initiativen ergreifen, weitere Länder aber stets einladen, mitzuwirken.

Drittens werden sich Kritiker darüber beschweren, dass mehr europäische öffentliche Güter die nationale Souveränität untergraben könnten. Aber dieser Einwand ist oft nur ein Vorwand für mangelnde Reformbereitschaft, und er ist sicherlich nicht zeitgemäß. In den von uns beschriebenen Politikbereichen besteht die Wahl nicht zwischen nationaler und europäischer Souveränität. Sie liegt zwischen europäischer Souveränität und überhaupt keiner Souveränität.

 

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Jean Pisani-Ferry
Inhaber des Tommaso Padoa-Schioppa-Lehrstuhls am European University
Institute Senior Fellow bei Bruegel

 

Erschienen online unter dem Titel „Europe can take a bigger role in providing public goods“, www.ft.com, 5. Dezember 2019.

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Clemens Fuest
ifo Institut, München, 2019
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