Gastbeitrag

Die Ära Merkel war eine Zeit des Wohlstands und der Bequemlichkeit

Clemens Fuest


Quelle:
Handelsblatt

Merkels Kanzlerschaft startete mit wichtigen Reformen. Doch dann wurden Rentengeschenke wichtiger als Investitionen. 14 Jahre CDU-Regierung – eine wirtschaftspolitische Bilanz.

Angela Merkel ist seit 14 Jahren Bundeskanzlerin. Vielleicht wird sie bis zum Ende der Legislaturperiode bleiben und mit Helmut Kohl gleichziehen, der ebenfalls 16 Jahre lang Kanzler war. Trotzdem ist klar: Die Ära Merkel nähert sich ihrem Ende. Was ist die wirtschaftliche Bilanz ihrer Regierungszeit?

Vergleicht man die ökonomischen Daten Deutschlands im Jahr 2005, als Angela Merkel Kanzlerin wurde, mit den aktuellen, dann ergibt sich das Bild eines spektakulären Erfolgs: Im Jahr 2005 litt Deutschland unter chronischer Wachstumsschwäche. Seit 2001 war die Wirtschaft durchschnittlich nur um 0,5 Prozent pro Jahr gewachsen. Das Defizit in den öffentlichen Haushalten betrug 3,3 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Seit Jahren verstieß Deutschland gegen die europäischen Verschuldungsgrenzen. Die Schuldenquote betrug 67 Prozent, ein Ende des Anstiegs war nicht abzusehen. Die Arbeitslosenquote lag bei elf Prozent, die Einkommensungleichheit nahm zu. Während in Ländern wie Spanien und Großbritannien die Wirtschaft boomte, wirkte Deutschland wie gelähmt: der kranke Mann Europas.

Heute, 14 Jahre später, hat sich das Bild radikal geändert. Das Wirtschaftswachstum lag seit 2005 trotz des Einbruchs während der Finanzkrise bei durchschnittlich 1,6 Prozent, also etwa dreimal so hoch wie in den fünf Jahren davor. Mehr als sechs Millionen zusätzliche Arbeitsplätze sind entstanden, die Arbeitslosigkeit ist auf 3,4 Prozent gefallen. Die Ungleichheit der Einkommen ist zumindest nicht weiter angestiegen.

Der Staat nimmt mehr ein, als er ausgibt, und die Staatsschuldenquote hat die 60-Prozent-Grenze des Vertrags von Maastricht unterschritten. Diese Sanierung wurde ohne große Mühe erreicht. Zwar mussten die Steuerzahler mehr leisten: Die kalte Progression in der Einkommensbesteuerung hat die Steuerquote erhöht. Zu Einschränkungen bei den öffentlichen Ausgaben ist es aber nicht gekommen. Fallende Zinsen und sinkende Ausgaben für Arbeitslose reichten aus, um das Defizit im Staatshaushalt abzubauen.

Wie ist es zu diesen Erfolgen gekommen, und welche Rolle hat die Wirtschafts- und Finanzpolitik dabei gespielt? Angela Merkel wird oft vorgeworfen, sie habe nur geerntet, was die rot-grüne Vorgängerregierung unter Kanzler Gerhard Schröder gesät hat. Die Reformen der Agenda 2010 sind für die günstige Wirtschaftsentwicklung ohne Zweifel wichtig.

Der verstärkte Druck auf Arbeitslose, eine Beschäftigung anzunehmen, zeigte schnell Wirkung. Die Reformen veranlassten außerdem die Tarifpartner, die Lohnsteigerungen in engen Grenzen zu halten. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und der Arbeitsplätze in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Volkswirtschaften verbessert.

Die Agenda-Reformen sind aber nicht der einzige Grund für den wirtschaftlichen Aufschwung. Zum einen hatten Anpassungen am Arbeitsmarkt, insbesondere eine stärkere Spreizung der Löhne für höher und niedriger qualifizierte Arbeit, schon vor den Agenda-Maßnahmen begonnen. Zum anderen brachte die Regierung Merkel weitere Reformen auf den Weg. 2007 senkte sie den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,2 Prozent.

Finanziert wurde das durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent. Im Jahr 2008 wurde die Unternehmensbesteuerung reformiert. Der Steuersatz auf Gewinne fiel von 38 auf 30 Prozent. Zwar wurde im Gegenzug die Bemessungsgrundlage verbreitert, aber insgesamt ergab sich eine spürbare Entlastung. Beide Reformen zielten darauf, Investitionen und die Ansiedlung von Arbeitsplätzen in Deutschland zu fördern.

Bevor diese Maßnahmen ihre Wirkung voll entfalten konnten, erschütterte die globale Finanzkrise die Weltwirtschaft. Es begann eine Zeit des Krisenmanagements. In Erinnerung bleibt der gemeinsame öffentliche Auftritt Angela Merkels mit Finanzminister Peer Steinbrück, bei dem den Sparern versichert wurde, ihr Geld sei sicher. Die deutsche Wirtschaft wurde von dem weltweiten Einbruch des Wachstums im Jahr 2009 hart getroffen. Die Wirtschaftsleistung schrumpfte um fünf Prozent.

Dass mit der Exportindustrie der stärkste Sektor der deutschen Wirtschaft getroffen wurde, war Glück im Unglück. Viele Unternehmen hielten trotz massiver Umsatzeinbrüche an ihren Beschäftigten fest. Sie setzten darauf, dass sich die Wirtschaft schnell erholen würde. Die Bundesregierung unterstützte diese Strategie unter anderem durch die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes. Diese Strategie ging auf. Die globale Konjunktur erholte sich erstaunlich schnell, und mit ihr die Nachfrage nach Produkten made in Germany.

Während der Finanzkrise trat eine langfristig orientierte Reformpolitik verständlicherweise in den Hintergrund. Es gibt allerdings eine Ausnahme: Im Sommer des Jahres 2009, auf dem Höhepunkt der Krise, wurde die „Schuldenbremse“ für Bund und Länder im Grundgesetz verankert. Sie legte fest, dass der Bund ab 2016 weitgehend ausgeglichene Haushalte vorweisen muss, die Länder ab 2020.

Heute werden diese Schuldenregeln intensiv diskutiert. Kritiker bezeichnen die Einführung der Schuldenbremse als Fehler, weil sie der Finanzpolitik zu wenig Spielräume lasse. Man muss aber sehen, dass 2009 gute Gründe dafür sprachen, sich auf eine mittelfristige Haushaltskonsolidierung festzulegen: Durch die krisenbedingt stark steigenden Staatsschulden und die absehbaren Belastungen durch den demografischen Wandel war es wichtig, glaubwürdig zu signalisieren, dass Deutschland an soliden Staatsfinanzen festhalten werde.

Die Verschuldungskonditionen des deutschen Staates haben sich dadurch verbessert. Außerdem wäre es in den Folgejahren ohne Schuldenschranke sicherlich zu einer stärker prozyklischen Finanzpolitik gekommen.

Wichtige Regeln über Bord geworfen

Schon im Herbst 2009 kündigte sich in Griechenland die nächste Krise an. Sie griff im Frühjahr 2010 auf weitere Euro-Staaten über. Für Angela Merkel brachte die Euro-Krise große Herausforderungen. Sie musste die deutsche Bevölkerung und ihre eigene Partei dafür gewinnen, dass Deutschland erhebliche Haftungsrisiken übernimmt, um die Krise einzudämmen. Grundlegende Regeln der Währungsunion, vor allem die No-Bail-out-Klausel, wurden über Bord geworfen. Angela Merkels Begründung für diese Schritte lautete: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.

Gleichzeitig hat Angela Merkel darauf bestanden, dass die Krisenstaaten Reformen einleiten, um ihre wirtschaftlichen Probleme zu überwinden und die Staatshaushalte in Ordnung zu bringen. Das war richtig, aber nicht genug, um das Vertrauen der Kapitalmärkte wiederherzustellen.

Das hat erst die Zusage der EZB erreicht, notfalls unbegrenzt Anleihen von Krisenstaaten zu kaufen. Die EZB begab sich damit an die Grenzen ihres Mandats und darüber hinaus. Gleichzeitig kam es Angela Merkel sicherlich gelegen, dass Mario Draghi ihr ersparte, vor dem Deutschen Bundestag für eine massive Ausweitung der Haftungszusagen in der Rettungsschirmpolitik werben zu müssen.

Die Euro-Krise hat die Erholung der deutschen Wirtschaft nach der Finanzkrise belastet, aber nicht aufgehalten. Dazu beigetragen hat vor allem ein günstiges makroökonomisches Umfeld. Die Nachfrage nach deutschen Exportgütern in den USA sowie Schwellenländern wie China wuchs deutlich, die Zinsen fielen stetig, und der niedrige Kurs des Euros trug zum Boom der deutschen Ausfuhren bei.

In den Jahren nach der Finanz- und Euro-Krise hat sich die deutsche Wirtschafts- und Arbeitsmarkt‧politik grundlegend geändert. Die Stärkung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit trat in den Hintergrund. Stattdessen richtete sich der Blick auf Umverteilungspolitiken und den Ausbau des Sozialstaats. Die SPD wollte die Kanzlerschaft Angela Merkels nur unter der Bedingung mittragen, dass die CDU ihr weit entgegenkommt.

Das wichtigste Projekt der zweiten Großen Koalition unter Angela Merkel, die 2013 ins Amt kam, war der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde. Kritiker, darunter viele Ökonomen, haben davor gewarnt, dass der Mindestlohn zu Beschäftigungsverlusten führen könnte, insbesondere dann, wenn es beim Mindestlohn zu einem politischen Überbietungswettbewerb kommt. Dazu ist es zumindest bislang nicht gekommen.

Schon heute fließt fast ein Drittel des Bundeshaushalts in die Finanzierung der Renten.

Bei der Beschäftigung ist es allenfalls zu geringen Verlusten gekommen. Viele Unternehmen haben die Mehrkosten mit einer Kürzung der Arbeitszeiten und einer Steigerung der Arbeitsintensität ausgeglichen. Hinzu kommt, dass der Mindestlohn seit 2015 nur moderat erhöht wurde.

Die Politik ist bislang den Empfehlungen der von ihr eingesetzten Mindestlohnkommission gefolgt. Ob es dabei bleibt, ist allerdings unklar. Die Forderungen nach einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns – oft werden zwölf Euro genannt – werden immer lauter.

Ein zweiter Schwerpunkt lag im Ausbau von Rentenleistungen. Dazu gehören Rente ab 63, die Mütterrente, die sogenannte Haltelinie (mit der verhindert werden soll, dass die Renten bei 45 Beitragsjahren unter 48 Prozent des letzten Nettolohns sinken) sowie zuletzt die Grundrente.

All dies sind Leistungen für eine wachsende Zahl von Rentnern, die von einer sinkenden Zahl an Beitragszahlern finanziert werden müssen. Da die Beiträge nicht reichen werden, sind wachsende Zuschüsse aus dem allgemeinen Steueraufkommen erforderlich. Schon heute fließt fast ein Drittel des Bundeshaushalts in die Finanzierung der Renten. Andere Ausgaben, beispielsweise für Verteidigung oder öffentliche Investitionen, geraten dadurch unter die Räder.

Die umstrittenste Entscheidung von Angela Merkel war die Öffnung der deutschen Grenzen in der Flüchtlingskrise des Jahres 2015. Unterstützer dieser Entscheidung haben behauptet, die Flüchtlingswelle werde Deutschland am Ende wirtschaftlichen Nutzen stiften, weil Deutschland Arbeitskräfte braucht. Kritiker dagegen warnten vor hohen Kosten für den Sozialstaat.

Angela Merkel selbst hat nie versprochen, dass die Zuwanderung Deutschland wirtschaftlich nützt, sondern eher betont, dass es sich um eine humanitäre Verpflichtung handelt, deren Kosten Deutschland tragen kann. Heute sieht es so aus, als würde sie recht behalten.

Unglückliche Klimapolitik

Wenn es einen Bereich gibt, in dem die Politik in der Ära Merkel besonders unglücklich agiert hat, dann ist das sicherlich die Energie- und Klimapolitik. Deutschland hat mehr Geld als die meisten Industrieländer für die Förderung erneuerbarer Energien ausgegeben und doch wenig erreicht. Die Klimaziele für 2020 werden verpasst. Der überstürzte Ausstieg aus der Atomenergie war noch weniger durchdacht als der Ausstieg aus der Kohle. Unsicherheit über die künftigen Rahmenbedingungen verhindert Investitionen in neue Kraftwerke.

Erst die Klimastreiks von Fridays for Future und wachsende Wahlerfolge der Grünen haben dazu geführt, dass die Bundesregierung ihre Klimapolitik überdenkt. Dass das aktuelle Klimapaket erstmals einen einheitlichen CO2-Preis in den Mittelpunkt stellt, ist ein Fortschritt. Trotzdem fehlt nach wie vor ein überzeugendes Gesamtkonzept, das zeigt, wie Deutschland Klimaschutz mit einer positiven Wirtschaftsentwicklung verbinden kann.

Nicht nur im Energiesektor, auch in anderen Wirtschaftsbereichen ist Deutschland eher mittelmäßig für die Zukunft gerüstet. Bei digitalen Infrastrukturen und der Digitalisierung des öffentlichen Sektors hat Deutschland Nachholbedarf. Die für das Land so wichtige Autoindustrie hat sich selbst durch den Dieselskandal in Schwierigkeiten gebracht.

Die Politik trägt zu den Schwierigkeiten aber zusätzlich bei, etwa durch europäische Flottenverbrauchsvorgaben. Sie geben quasi planwirtschaftlich einen drastischen Rückgang der Zahl der Autos mit Verbrennungsmotoren vor. Es wäre klimapolitisch und wirtschaftlich besser, sich auf die CO2-Bepreisung zu konzentrieren und im Wettbewerb zu ermitteln, welche Mischung aus Antriebstechniken sich durchsetzt.

Viel spricht dafür, dass man künftig die Ära Merkel als eine Zeit bewerten wird, in der trotz zwischenzeitlicher Krisen Wohlstand und Stabilität herrschten, aber auch als eine Ära, an deren Ende eine gewisse Bequemlichkeit einsetzte. Ob die nächste Regierung die anstehenden Herausforderungen mit frischer Kraft und besseren Ideen für die Sicherung künftigen Wohlstands angeht, wird sich bald zeigen.

 

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