Gastbeitrag

Keine Schattenhaushalte!

Niklas Potrafke und Stefan Korioth warnen, dass der Koalitionsvertrag die Finanzierung vieler geplanter Vorhaben offen lässt und befürchten, dass dies vor allem durch Umgehen der Schuldenbremse mit neuen Schulden geschehen soll.


Quelle:
Handelsblatt

Regierungswechsel sind meist kostspielig. SPD, Grüne und FDP machen im Koalitionsvertrag klar, dass sie in großem Umfang öffentliche Mittel in Klimaschutz, Digitalisierung, Bildung und Forschung sowie Infrastruktur investieren wollen. Ebenso deutlich wird aber auch auf das Einhalten der Schuldenbremse hingewiesen. Das klare Bekenntnis zur Schuldenbremse könnte zunächst einmal beruhigend wirken. Doch Skepsis ist geboten: Schließlich verfügt die Ampel ja gar nicht über eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, mit der sie das Grundgesetz ändern und die Schuldenbremse abschaffen könnte. Außerdem wird sich auch der Bundesrat bei allen Vorhaben einschalten. Es bleibt der Koalition also kaum etwas anderes übrig, als sich zur Schuldenbremse zu bekennen, da sie derzeit ohnehin nichts an ihr ändern kann.

Skepsis ist darüber hinaus geboten, weil sich während der rot-grün-gelben Verhandlungen abgezeichnet hat, dass die Schuldenbremse umgangen werden könnte. Darauf deutet auch die Formulierung im Koalitionsvertrag hin, "im Rahmen der grundgesetzlichen Schuldenbremse die nötigen Zukunftsinvestitionen (zu) gewährleisten".

Tatsächlich ist die Versuchung groß, zusätzliche Ausgaben insbesondere für Klimaschutz und Digitalisierung, aber auch höhere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt für die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, die 2020 schon mit 130 Milliarden Euro zu Buche schlugen, mit neuen Schulden zu finanzieren. Das alles kommt zum ungünstigsten Zeitpunkt: Die Coronapandemie hat in kürzester Zeit die gesamtstaatliche Verschuldung von knapp 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um gut zehn Prozentpunkte erhöht.

Auch 2022 werden neue Schulden allein aus diesem Grund erforderlich sein. Ob dies 2023 bereits anders sein kann, darf schon jetzt bezweifelt werden. In dieser Situation sind Bekenntnisse zur Schuldenbremse leicht - sie disziplinieren die Neuverschuldung aber nicht.

Um das Problem in öffentlich wenig einsehbare Räume zu verlagern und geplante zusätzliche Staatsausgaben mit neuen Schulden zu finanzieren, wird diskutiert, Extrahaushalte ("Sondervermögen") zu bilden. Mit ihnen könnte die Schuldenbremse ausgehebelt werden. Die Staatsverschuldung würde so verschleiert, die öffentliche Haushaltsführung intransparenter werden. Dazu sollte es nicht kommen. Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen gehören in den Kernhaushalt. Sie sind von Regierung und Parlament zu entscheiden und zu verantworten.

Sondervermögen wurden vornehmlich in wirtschaftlich außergewöhnlichen Situationen gebildet: nach dem Krieg zu Beginn der 1950er-Jahre, nach der deutschen Wiedervereinigung und im Jahr 2010 nach der Finanzkrise. Auf der Grundlage des Marshallplans entstand beispielsweise das European-Recovery-Program-Sondervermögen. Ab 1990 wurden der Fonds "Deutsche Einheit" und der Kreditabwicklungsfonds geschaffen. 2008 und 2009 folgten der Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung und der Investitions- und Tilgungsfonds, über den etwa die Auto-Abwrackprämie des damaligen Konjunkturpakets II finanziert wurde.

Sondervermögen gibt es auch in den Ländern (zum Beispiel Bau- und Liegenschaftsbetriebe) und in den Gemeinden (hauptsächlich Zweckverbände). Fast alle Länder und der Bund haben Coronaschulden und - ausgaben 2020 in kreditfinanzierten Sondervermögen gebündelt. Der hessische Corona-Fonds ist vom dortigen Staatsgerichtshof kürzlich wegen eklatanter Verstöße gegen haushaltsrechtliche Prinzipien für verfassungswidrig erklärt worden.

Bis zum Jahr 2009 konnten Bund und Länder ihre Schulden problemlos mit Sondervermögen schönrechnen, weil die bis dahin geltende Schuldenbremse ("Goldene Regel") nach dem alten Artikel 115 Absatz 2 des Grundgesetzes (GG) nicht für Sondervermögen galt. Mit Einführung der neuen Schuldenbremse (GG-Artikel 109 und 115) können im Bund jedoch keine rechtlich unselbstständigen Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung mehr gebildet werden.

Bei rechtlich unselbstständigen Sondervermögen ging die Verschleierungstaktik so: Es wird ein öffentlicher Fonds oder staatliches Unternehmen gegründet, welche vom Staat kontrolliert und mehrheitlich finanziert werden. Der Staat nimmt dann über dieses Sondervermögen Schulden auf, die nicht im Kernhaushalt ausgewiesen werden.

Es muss also zwischen rechtlich selbstständigen und rechtlich unselbstständigen Sondervermögen unterschieden werden. Die Ampelkoalitionäre haben während ihrer Sondierungs- und Koalitionsgespräche erwogen, rechtlich selbstständige Sondervermögen in Form von Investitionsgesellschaften zu bilden. Staatsschulden würden hier schöngerechnet, indem sich die Investitionsgesellschaften am Kreditmarkt verschulden und die Bundesrepublik Deutschland dafür als Bürge geradestünde.

Die Schulden der Investitionsgesellschaft sollen nicht im Kernhaushalt des Staats erfasst werden. Bezweifeln muss man, inwieweit der Staat wesentliche Investitionsvorhaben an Investitionsgesellschaften delegieren darf, weil sich diese öffentlichen Investitionen nicht nur in finanzieller Hinsicht der Kontrolle des Bundestags entziehen würden. Demokratisch legitimiert wären öffentliche Investitionen über Investitionsgesellschaften wohl kaum.

Dem Versprechen der neuen Schuldenregel - neue Kreditaufnahmen, abgesehen von der lediglich dem Bundeshaushalt zustehenden jährlichen Neuverschuldung von 0,35 des BIP, nur bei Konjunkturschwankungen und in außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staats entziehen - kann nur entsprochen werden, wenn Kredite zugunsten der Sondervermögen den Grenzen der Neuverschuldung unterworfen werden.

Zur Finanzierung zusätzlicher Ausgabenwünsche der Ampelkoalitionäre sollten andere Wege als Schulden und schon gar nicht in Form von Sondervermögen gesucht werden. Die Politik muss vielmehr prüfen, welche Staatsausgaben reduziert werden können. Ein entschlossener Subventionsabbau bietet sich an. Das sieht der Koalitionsvertrag auch explizit vor. Die Finanzierung der Sozialversicherungen, insbesondere der Rentenversicherung, wird, wenn Leistungseinschränkungen nicht gewünscht sind, um Beitragserhöhungen nicht herumkommen. Für die kommende Legislaturperiode schließt der Koalitionsvertrag das allerdings aus. Das läuft auf einen ungebremst steigenden Zuschuss aus Steuermitteln hinaus. Eine nachhaltige Lösung ist das nicht.

Deshalb sollte an eine in den 2000er-Jahren mühsam in der Politik verankerte Einsicht erinnert werden: Die Lebensarbeitszeit muss verlängert werden. Eine solche Verlängerung wäre eine entscheidende Maßnahme, um das Rentensystem zukunftsfest und die öffentlichen Finanzen tragfähig zu machen. Die Ampelkoalition hat sich jedoch dagegen ausgesprochen - sie versäumt es also, dem demografischen Wandel, einer der großen Herausforderungen unserer Zeit, angemessen zu begegnen.

Der Koalitionsvertrag lässt offen, wie die vielen Vorhaben finanziert werden sollen. Zu befürchten ist, dass dies vor allem durch ein Umgehen der Schuldenbremse mit neuen Schulden geschehen soll.

Die Autoren Stefan Korioth ist Professor für Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Niklas Potrafke ist Professor für Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und leitet das Ifo Zentrum für öffentliche Finanzen und politische Ökonomie.