Monographie (Autorenschaft)

Für wen lohnt sich Arbeit? Partizipationsbelastungen im deutschen Steuer-, Abgaben- und Transfersystem

Maximilian Joseph Blömer, Andreas Peichl
2020

Bertelsmann Stiftung

In dieser Studie untersuchen wir die Beschäftigungsanreize des deutschen Steuer-, Abgaben- und Transfersystems. Um die Anreizwirkungen von Steuern und Transferleistungen zu beurteilen, stellt man typischerweise die Frage, wie stark ihr verfügbares Einkommen steigt, wenn eine Person das Arbeitsangebot ausweitet. Während die effektive Grenzbelastung („intensive margin“) relevant ist, um die Anreize bei Entscheidungen über kleine Änderungen im Arbeitsangebot zu analysieren, erweitert die Darstellung von Partizipationsbelastungen die Analyse um diskrete Entscheidungen.

Diskrete Entscheidungen sind beispielsweise die prinzipielle Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder der Wechsel von einer Teil- zu einer Vollzeitbeschäftigung. Solche Entscheidungen werden als Entscheidungen an der „extensive margin“ bezeichnet. Die Partizipationsbelastung gibt an, wie viel Prozent des gesamten individuellen Bruttoeinkommens als Steuern und Abgaben sowie durch Transferentzug einbehalten werden. Die berechneten Partizipationsbelastungen legen also auch offen, wie groß der Lohnabstand ist.

Wir gehen in dieser Studie der Frage nach, welche zentralen Elemente des Steuer-, Abgaben- und Transfersystems die Höhe der Partizipationsbelastungen bestimmen. Zudem untersuchen wir, wie sich die Partizipationsbelastung im Zeitverlauf real entwickelt hat. Von verschiedenen Seiten wird regelmäßig das Phänomen der „kalten Progression“ bemängelt, also der Erhöhung der Steuerbelastung im Zeitverlauf aufgrund einer verzögerten Anpassung des Einkommensteuertarifs an das nominale Lohnwachstum. Wir untersuchen diesen Aspekt im Hinblick auf das gesamte Steuer-, Abgaben- und Transfersystem.

Wir können zeigen, dass das Problem der schwachen Arbeitsanreize im Niedriglohnbereich in Deutschland auch bei der Betrachtung von Partizipationsentscheidungen deutlich wird. Insbesondere bei Alleinstehenden im Niedriglohnbereich ergeben sich im Fall der Aufnahme eines Vollzeitjobs hohe Partizipationsbelastungen von etwa 75 bis 80 %. Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten, dass die Partizipationsbelastungen in Deutschland nie mehr als 100 % betragen. Das heißt, dass eine Person dann, wenn sie am Arbeitsmarkt teilnimmt, grundsätzlich ein höheres Nettoeinkommen erzielt, als wenn sie arbeitslos ist.

Unsere Analysen zeigen, dass sich die Partizipationssteuersätze aufgrund der komplexen Ausgestaltung des Steuer- und Transfersystems stark entlang demografscher Haushaltsmerkmale wie dem Ehestatus und der Kinderzahl unterscheiden.

Beispielsweise hängt die Steuerlast einer Person, bedingt durch das Ehegattensplitting, zusätzlich vom Einkommen des Partners oder der Partnerin ab. Insgesamt zeigt sich, dass die Partizipationsbelastungen maßgeblich durch drei verschiedene Elemente bestimmt werden: erstens durch die Höhe des verfügbaren Einkommens bei Arbeitslosigkeit, zweitens durch die Hinzuverdienstregelungen beim Arbeitslosengeld II (ALG II) und drittens durch die Minijobregelungen sowie das Ehegattensplitting im Steuersystem. Die Partizipationsbelastung einer alleinstehenden Person hängt maßgeblich vom Transferentzug beim ALG II ab. Kleinstjobs bis 100 € pro Monat stellen für einen Single noch attraktive Hinzuverdienstmöglichkeiten dar. Jedoch werden bereits Minijobs und Beschäftigungen im Niedriglohnbereich stark belastet.

Die meisten Elemente des Steuer- und Transfersystems sind über die letzten 15 Jahre weitgehend stabil geblieben. Die meisten Parameter, wie etwa der Einkommensteuertarif oder die Höhe der Transferleistungen, wurden regelmäßig an die Kaufkraft angepasst. Real gesehen haben sich also die Belastungen im Durchschnitt kaum erhöht. Bei genauerer Betrachtung lassen sich jedoch kleinere Änderungen der Partizipationsbelastung im Zeitverlauf erkennen. So ist die Partizipationsbelastung bei geringen Einkommen real leicht angestiegen. Dies liegt daran, dass zwar viele, aber nicht alle Parameter des Transfersystems regelmäßig an die reale Kaufkraft angepasst werden. Konkret gesprochen führt die Nichtanpassung der Hinzuverdienstgrenzen beim ALG II zu einem Anstieg der Partizipationsbelastung. Real gesehen sind damit die Partizipationsbelastungen in diesem Bereich gestiegen.