Stellungnahme -

ifo Standpunkt 243: Können höhere Löhne zur Überwindung des Fachkräftemangels beitragen?

In Deutschland wird derzeit intensiv über Fachkräftemangel diskutiert. Trotz Beschäftigungshöchstständen sagen nach Umfragen des ifo Instituts knapp 50 % der Unternehmen, sie seien durch Fachkräftemangel eingeschränkt. Ebenfalls ein Höchststand. Aus ökonomischer Sicht gibt es auf Knappheit eine einfache Antwort: die Preiserhöhung.

Bild Clemens Fuest für Standpunkte

Übertragen auf den Arbeitsmarkt könnte man demnach Mangel überwinden, indem man Löhne erhöht. Was wären die Folgen? Einige Unternehmen würden sich aus dem Markt zurückziehen. Manche unliebsame Tätigkeit würden wegfallen oder automatisiert. Beschäftigte wechseln in Jobs mit höheren Löhnen und höherer Produktivität. Für einzelne Unternehmen, die im Wettbewerb nicht mithalten können, wäre das bitter. Gesamtwirtschaftlich ergibt sich daraus aber ein Gewinn. Hinzu kommt, dass Menschen bei höheren Löhnen eher bereit sind, eine Stelle anzunehmen.

Ist der Arbeitsmarkt ein funktionierender Markt?

Dem kann man entgegenhalten, der Arbeitsmarkt sei eben kein voll funktionierender Markt, der gezogene Schluss daher irreführend. Aus Perspektive der evidenzbasierten Arbeitsmarktforschung ist dies richtig und falsch zugleich.

Richtig ist, dass der Arbeitsmarkt kein Markt mit perfektem Wettbewerb ist. Friktionen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Viele Beschäftigte haben spezifische Fähigkeiten und sind nicht ohne Weiteres austauschbar. Zugleich können Arbeitnehmer oft nicht mühelos von einem zum anderen Arbeitgeber wechseln. Hieraus ergibt sich Marktmacht von Arbeitgebern und auch von manchen Arbeitnehmern, die anders als im perfekten Wettbewerb nicht Preisnehmer sind, sondern selbst Löhne mit beeinflussen. Diese Perspektive hilft dabei, viele überraschende Befunde besser zu verstehen: zum Beispiel, dass es gleichzeitig offene Stellen und Arbeitslosigkeit gibt. Oder dass der Mindestlohn in Deutschland zumindest bislang nicht zu starken Beschäftigungsverlusten geführt hat.

Nun zur entscheidenden Frage: Bedeutet die Tatsache, dass der Arbeitsmarkt kein perfekter Markt ist, dass Wettbewerb und Lohnsteigerungen in der aktuellen Lage lediglich umverteilen oder gar schädlich sind? Aus der Perspektive der Arbeitsmarktforschung spricht viel dafür, dass das Gegenteil richtig ist. Arbeitskräftemangel ist demnach Ausdruck der Tatsache, dass – anders als im perfekten Wettbewerb – die angebotenen Löhne geringer sind als die Produktivität, also als das, was der Arbeitnehmer für das Unternehmen erwirtschaften könnte. Gerade die Friktionen am Arbeitsmarkt sorgen dafür, dass Arbeitskräfte nicht dort eingesetzt werden, wo sie am produktivsten sind. Das produktive E-Mobility-Startup kann nicht ausreichend wachsen, wenn die benötigten Ingenieurinnen aufgrund von Friktionen beim älteren Autozulieferer bleiben. Mehr Wettbewerb könnte so zu einer doppelten Dividende führen: Arbeitskräfte werden vermehrt dort eingesetzt, wo sie produktiver sind, und Löhne und Arbeitsbedingungen verbessern sich insbesondere dort, wo sie aus marktwirtschaftlicher Sicht zu niedrig waren. Sofern Beschäftigte mit niedrigen Einkommen überproportional profitieren, sinkt zusätzlich die Ungleichheit.

Lohnsteigerungen können die Ungleichheit verringern

Genau diesen Schluss legt eine aktuelle Studie aus den USA nahe, wo trotz günstigerer demografischer Struktur ebenfalls über Fachkräftemangel geklagt wird. In der Pandemie hatten sich dort viele Arbeitnehmer beruflich oder geografisch neu orientiert. Diese höhere Mobilität hat den Wettbewerb um Arbeitskräfte verstärkt, zu Abwanderung aus relativ schlecht bezahlten Jobs und zu Lohnzuwächsen insbesondere im Niedriglohnbereich geführt. Die Ungleichheit ging zurück.

Doch welche Kosten gehen mit stärkerem Wettbewerb um Arbeitskräfte einher? Eine Sorge ist, dass höhere Löhne zu höheren Preisen führen, so dass Reallöhne stagnieren. Mit Preissteigerungen ist zu rechnen, allerdings legt beispielsweise die Studie aus den USA nahe, dass stärkerer Wettbewerb um Arbeitskräfte zu steigenden Reallöhnen für einen großen Teil der Beschäftigten führte. Das ist nicht überraschend, weil Löhne eben nur einen Teil der gesamtwirtschaftlichen Einkommen darstellen.

In Deutschland kommt hinzu, dass der Niedriglohnbereich durch Transfers wie etwa Aufstocken subventioniert wird. Damit ist das vom App-Fahrer ausgelieferte Essen schon heute gesamtgesellschaftlich teurer, als es die Rechnung ausweist. Lohnsteigerungen in diesem Bereich bauen daher Subventionen ab, die zwar sozialpolitisch sinnvoll sind, aber auch den Arbeitsmarkt verzerren – höhere Löhne und Preise würden gesamtgesellschaftliche Kosten besser widerspiegeln.

Mehr Wettbewerb hilft gegen den Fachkräftemangel

Eine weitere Sorge ist, dass mehr Wettbewerb um Arbeitskräfte zur Abwanderung von Beschäftigten aus gesellschaftlich wichtigen, aber regulierten Bereichen, wie Kindergärten oder Pflege, führen könnte. Hier bestimmen allerdings politische Entscheidungen statt Märkte, wie Leistungen bewertet werden. Entsprechend steht die Politik hier in der Pflicht, Bezahlung und Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass genügend Arbeitskräfte verfügbar sind. Zum Beispiel legt für die Pflegebranche eine Studie nahe, dass viele Arbeitskräfte bei verbesserten Löhnen und Arbeitsbedingungen sogar mehr arbeiten würden. Löhne anderswo niedrig zu halten, nur um Arbeitskräfte in diesen Bereichen zu halten, wäre falsch.

Insgesamt heißt das also: Mehr Wettbewerb um Arbeitskräfte und damit verbundene Verbesserungen von Löhnen und Arbeitsbedingungen können aktuell signifikant zur Lösung des Fachkräftemangels beitragen. Dies heißt nicht, dass Reformen des Einwanderungssystems, der Kinderbetreuung oder des Ehegattensplittings auf die lange Bank geschoben werden sollten. Aber gerade weil sich eine demografisch bedingte Verknappung des Arbeitskräfteangebots abzeichnet, ist eine wettbewerbliche Anpassung an die Verknappung wichtig. Hierzu könnte der Gesetzgeber Wettbewerbshemmnisse abbauen und Maßnahmen wie die Kurzarbeit, die Arbeitsplatzwechseln möglicherweise entgegenwirken, überprüfen. Vor allem haben es aber die Tarifparteien selbst in der Hand, dort, wo Arbeitskräfte fehlen, der Knappheit durch Lohnerhöhungen entgegenzuwirken.

Clemens Fuest
Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft
Präsident des ifo Instituts

Simon Jäger
CEO des Institute of Labor Economics (IZA), Bonn
Associate Professor of Economics,
Massachusetts Institute of Technology (MIT)

 

Erschienen unter dem Titel „ Mehr Lohn“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 5. März 2023

ifo Standpunkt
Clemens Fuest, Simon Jäger
ifo Institut, München, 2023
ifo Standpunkt Nr. 243
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