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Profitiert Deutschland wirklich vom Euro?

Clemens Fuest und Johannes Becker

Auf dem Rücken des Südens, der darbt, ist Deutschland erstarkt: So ist es landauf, landab zu hören. Aber stimmt das auch?


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Online:

Ein Land wie Deutschland profitiert vorn Handel mit einem Land wie Frankreich aus zwei Gründen. Erstens erlaubt es der Handel beiden Ländern, sich zu spezialisieren. Weil Deutschland Kleinwagen und Käse importiert, kann es sich auf die Herstellung von Sportwagen und Maschinen fokussieren. Dadurch entstehen Spezialisierungsgewinne in Form höherer Produktivität, die sich darin äußert, dass der deutsche Arbeitnehmer deutlich weniger arbeiten muss als noch vor 50 Jahren, um ein bestimmtes Güterbündel konsumieren zu können. Zweitens gewinnt der deutsche Konsument durch abwechslungsreicheren Konsum. Wir konsumieren Filme aus Amerika, Wein aus Italien und Urlaube in Griechenland - alles Güter, bei denen wir nicht nur komparative Nachteile haben, sondern die wir schlicht nicht herstellen können.

Doch ob man aus Sicht der ökonomischen Theorie erwarten kann, dass der Euro den Handel und die Investitionen wirklich befördert, ist nicht so klar, wie man angesichts des Optimismus der Euro-Enthusiasten meinen könnte. Deutschland wäre auch ohne den Euro höchstwahrscheinlich Teil des Europäischen Währungssystems mit festen, aber gelegentlich anzupassenden Wechselkursen. Der Euro-Effekt besteht hier also darin, diese gelegentlichen Anpassungen auszuschließen.

Dies ist aus Sicht des einzelnen Unternehmens begrüßenswert, weil unwiderrufliche Wechselkurse wie eine kostenlose Vollversicherung gegen Wechselkursschwankungen wirken. Wenn diese das wahrgenommene Preisrisiko reduzieren, könnte dies den Handel befördern. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht allerdings sind fixierte Wechselkurse eher kontraproduktiv. Marktpreise passen sich in vielen Fällen nicht schnell genug in alle Richtungen an - insbesondere Lohnsenkungen auf breiter Front sind nur selten zu beobachten.

Gleiches gilt für die Zentralisierung der Geldpolitik, die unweigerlich damit einhergeht, dass für einige Mitgliedstaaten eine stabilitäts- und wachstumsorientierte Geldpolitik verfehlt wird (schließlich muss sie sich nach dem Durchschnitt der Eurozone richten). Die Vorhersage der Wirtschaftstheorie über den Einfluss der Euroeinführung auf den grenzüberschreitenden Handel fällt also insgesamt zwiespältig aus.

Auch ein Blick auf die Daten klärt diese Frage nicht eindeutig. Wenn der Euro tatsächlich den Handel und damit die internationale Arbeitsteilung innerhalb der Eurozone befördert, sollte sich dies in einer Steigerung der Marktanteile der Eurostaaten innerhalb der EU niederschlagen. Deutschlands Marktanteil bleibt über den gesamten Zeitraum nahezu stabil, der Anteil der Nord-Eurozone steigt moderat an (verantwortlich dafür sind aber ausschließlich die Niederlande).

Die eigentlichen Bewegungen aber finden in der Süd-Eurozone und in den Ländern statt, die den Euro nicht oder nicht von Beginn an haben. Die südlichen Länder, darunter Frankreich und Italien, verlieren massiv. Gleiches gilt für Großbritannien, Schweden und Dänemark, die die Nicht-Euro-Nordgruppe bilden. Die osteuropäischen Staaten gewinnen stark. Ein Unterschied zwischen Neu-Eurostaaten und Ländern wie Polen und Tschechien lässt sich dabei nicht erkennen. Der Abstieg Südeuropas beginnt wohlgemerkt vor Ausbruch der Krise.

Vielleicht wäre es Deutschland ohne den Euro wie Großbritannien oder Schweden ergangen? Das ist durchaus möglich, aber die zusätzliche Nachfrage müsste aus der Eurozone kommen, um dieses Argument zu stützen. Doch genau das findet nicht statt. In der gesamten Eurozone (außer in Deutschland) nehmen die Marktanteile im Import ab. Insgesamt hat die Eurozone über die gesamte Periode fünf Prozentpunkte an Importrnarktanteilen verloren. Gleiches gilt für den Export. Deutschland konnte seinen Exportanteil also aufgrund der höheren Importnachfrage aus dem Osten stabil halten. Die Eurozone hat hier nicht geholfen.

Hat der Euro zumindest die Investitionen angekurbelt? Die Eliminierung der Wechselkursschwankungen hat natürlich auch Konsequenzen für die Kapitalmärkte und die Ansiedlung von Investitionen. Deutschland wird mit dem Euro Teil eines größeren und tiefer integrierten europäischen Kapitalmarkts. Größere Kapitalmärkte weisen höhere Liquidität auf sowie stärkeren Wettbewerb unter den Anbietern von Kapital in allen Risikoklassen. Dies nützt den Nachfragern von Kapital, meist den Unternehmen, die von günstigeren Finanzierungsbedingungen profitieren und mehr investieren können.

Wie groß dieser Liquiditätseffekt ist, lässt sich nur langfristig ermitteln. Unmittelbar wirksam wird der Wegfall des Wechselkursrisikos vor allem für Investitionen in Staaten, deren Währungen gegenüber der D-Mark häufig abgewertet worden sind. Für sie bedeutet der Euro eine glaubwürdige Selbstbindung an feste Wechselkurse zu Deutschland und zur Eurozone insgesamt. Der Rückgang der Zinsdifferenzen zu Deutschland gleich nach der Entscheidung, den Euro einzuführen, belegt den Wert dieser Glaubwürdigkeit. Dies spiegelt die erhöhte Bereitschaft internationaler Investoren wider, sich in diesen Staaten zu engagieren. Deutschland kann von diesem Effekt naturgemäß nicht profitieren.

Für Investitionen in Deutschland entfällt zudem der bisherige Standortvorteil der stabilen Ankerwährung. Unternehmen, die den deutschen Markt beliefern wollen, aber vor deutschen Löhnen und Steuern zurückscheuen, haben es nun leichter, ihren Standort außerhalb Deutschlands zu suchen. Man denke hier vor allem an Irland, das in den Jahren nach der Euroeinführung gleich mehrere große amerikanische Unternehmen anziehen konnte, die von dort aus den Kontinent beliefern. Dieser Effekt des Euros belastet die Staaten der ehemaligen D-Mark-Zone.

Die Daten geben auch hier keinen klaren Hinweis, dass der Euro die Investitionen gefördert haben könnte. Der deutsche Anteil an den gesamten Bruttoinvestitionen in der EU liegt unterhalb des Niveaus der 1990er Jahre, hält sich aber ansonsten stabil. Deutlich zu erkennen ist der Investitionsboom in den Südländern. Diese Zahlen enthalten jedoch auch Investitionen in Immobilien, die nach dem Platzen der Blase vielfach abgeschrieben werden müssen.

Was Handel und Investitionen angeht, ist ein positiver Effekt des Euros nicht zu erkennen. Weil aber Handel und Investitionen kein Selbstzweck sind, sondern den Wohlstand eines Landes mehren sollen, ist ein besserer, obgleich bei weitem kein vollkommener Indikator die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts. Betrachtet man die durchschnittlichen Wachstumsraten des BIP in konstanten Preisen seit der Euroeinführung, so ergibt sich ein ernüchterndes Bild. Bis auf Irland und Luxemburg landen die Euro-Gründerstaaten und Griechenland in dieser Zeit auf den letzten Plätzen, ergänzt durch Dänemark, dessen Währung stabil zum Euro gehalten wird.

Deutschland landet auf dem fünftletzten Platz, hinter Frankreich und sogar hinter den Krisenstaaten Spanien und Irland. Zugegebenermaßen belegte Deutschland auch schon vor der Einführung des Euros einen der hinteren Ränge in der Wachstumsrangliste. Plausibel ist auch, dass Länder mit einem deutlich unterdurchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen wie etwa die baltischen Staaten einen Aufholprozess durchlaufen.

Dass der Euro Deutschland (mehr als anderen Mitgliedstaaten) genutzt habe, lässt sich aber aus den Daten nicht herauslesen. Begrenzt man den Betrachtungszeitraum auf die Zeit vor der Krise, ändert sich übrigens nicht viel. Deutschland teilt sich mit einem durchschnittlichen Wachstum von 1,4 Prozent mit Dänemark den drittletzten Rang vor Portugal und Italien. Griechenland belegt mit einer Durchschnittswachstumsrate von 3,2 Prozent noch einen guten Mittelfeldplatz.

Man kann mit solch oberflächlichen Betrachtungen natürlich keinen kausalen Effekt des Euros auf Handel, Investitionen und Wachstum belegen. Doch auch wissenschaftliche Untersuchungen, die mit Hilfe statistischer Methoden genau diesen Effekt des Euros zu messen versuchen, kommen hier nicht zu einem eindeutigen Ergebnis. Unstrittig ist lediglich, dass Deutschland in der Zeit des Euros seinen Marktanteil im Handel und bei den Investitionen stabil gehalten hat und im Wachstum trotz der relativ guten Performance seit der Krise einen der hinteren Plätze belegt.

Sicher, es hätte ohne Euro noch schlimmer kommen können. Dafür liefern die Daten zwar zunächst keine Anhaltspunkte. Doch eine Reihe von Kritikern behauptet, Deutschland habe vom Euro profitiert, weil es ihm nur durch die einheitliche Währung gelungen sei, seine Krise Anfang des vergangenen Jahrzehnts zu überwinden. Dieses gar nicht so triviale Argument hat mindestens zwei Versionen. Die erste Version stellt auf die politischen Schwierigkeiten einer internen Abwertung ab. Bei Paul Krugman heißt es: "Deutschland glaubt, dass seine wirtschaftliche Gesundung die Frucht eigener Anstrengung war, aber in Wahrheit ist sie dem inflationären Boom im Rest Europas zu verdanken."

Es ist richtig, dass die Inflation im Süden die relative Wettbewerbsfähigkeit (also das Verhältnis der deutschen Produktionskosten zu denen im Süden) verschoben hat. Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Eurozone konnte sich auf diese Weise verbessern, ohne dass die deutschen Arbeitskosten tatsächlich nominal sinken mussten. Es liegt aber nahe, dass der Boom im Süden gleichzeitig den Eurokurs angehoben und damit Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit außerhalb der Eurozone verschlechtert hat.

Wenn man nun noch in Betracht zieht, dass die Inflation im Süden vor allem im nicht handelbaren Sektor stattfand, dessen Produkte per definitionem nicht mit deutschen Gütern konkurrieren, und die Importe aus dem Nicht-Euroraum deutlich höhere Wachstumsraten hatten als jene aus dem Euroraum, wird deutlich, dass Krugmans Argument nicht weit trägt. Vielleicht gilt es sogar in umgekehrter Form: Der Boom im Süden könnte den Eurokurs angehoben und so die Erholung Deutschlands verlangsamt haben. Zumindest aber taugt dieses Argument sicherlich nicht dazu, einen Vorteil Deutschlands zu beschreiben. Denn mit einer eigenen Währung hätte Deutschland in jedem Fall noch viel leichter seine Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen können.

In seiner zweiten Version taucht das Argument als die allgemeine Vermutung auf, es sei vorteilhaft, Teil einer schwachen Währungsunion zu sein. So liest man im "Wall Street Journal": "Die relative Schwäche des Euros gegenüber einer hypothetischen D-Mark ist ein Vorteil für Deutschland. Die Währungsunion umfasst auch Länder wie Italien, Frankreich, Spanien und Griechenland, die in den letzten Jahren alle nicht so erfolgreich wie Deutschland waren. Dies belastet den Eurokurs, was wiederum den deutschen Exporteuren hilft. Wie man weiß, lebt die deutsche Wirtschaft vom Export. Eine stärkere Währung würde daher mit Sicherheit den deutschen Exporteuren das Leben schwerer machen, weil ihre Produkte auf dem Weltmarkt teurer würden."

Hier wird angenommen, dass der Kurs einer deutschen Währung höher liegen würde als der Eurokurs. Das mag richtig sein für die Zeit nach Ausbruch der Krise, in der vor allem Kapitalbewegungen in den "Safe Haven" Deutschland den Kurs der D-Mark gesteigert hätten. Auf der Handelsseite aber sind Zweifel angebracht, da ein wichtiges Symptom einer Unterbewertung des "deutschen" Euros fehlt: Die deutsche Inflationsrate gehörte im Betrachtungszeitraum zu den geringsten aller Euroländer.

Darüber hinaus ignoriert dieses Argument, was zu den zentralen Erkenntnissen der Handelsökonomik gehört: die Einsicht nämlich, dass die Subventionierung von Exporten dem Exportland langfristig mehr schadet als nützt. Eine künstlich niedrig gehaltene Währung verteilt Einkommen um: von den Importeuren und den Verbrauchern zu den Exporteuren. Dass Deutschland davon profitieren soll, wenn es das reale Einkommen seiner Verbraucher zugunsten seiner exportierenden Unternehmen senkt, ist kaum zu begründen. Der Einwand, dies helfe beim Abbau der Arbeitslosigkeit, ist hinfällig. Wenn die deutsche Ökonomie nicht auf der Höhe ihres Potentials arbeitet, ist der Wechselkurs ihrer Währung auch nicht zu niedrig.

Es bleibt dabei: In konjunktureller Normallage profitiert Deutschland am meisten von einem gleichgewichtigen Wechselkurs, der weder Exporte subventioniert noch Importe besteuert. Denn langfristig führt ein zu niedriger Wechselkurs nur zu Wachstumseinbußen aufgrund einer verzerrten Produktionsstruktur.

Deutschland scheint als eines der wenigen Länder in der Eurozone die Finanzkrise hinter sich gelassen zu haben. Während der Süden darbt, ist die Arbeitslosigkeit hierzulande niedrig, der Staatshaushalt ausgeglichen. Es wäre doch überraschend, wenn sich hier kein Zusammenhang entdecken ließe.

Nun profitieren Länder innerhalb einer Währungsunion nicht allgemein, wenn andere Mitgliedstaaten in die Krise geraten. Deutschland könnte allerdings erstens, wie eben schon besprochen, von niedrigen Eurokursen profitieren und zweitens von den Kapitalströmen, die in Deutschland Schutz suchen und sich in komfortablen Finanzierungsbedingungen für Staat und Unternehmen niederschlagen.

Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle hat 2015 in einer vielbeachteten Studie den Gewinn für den deutschen Staat auf 100 Milliarden Euro geschätzt. Diese Zahl beruht unter anderem auf der mutigen Annahme, dass Deutschland ohne den Euro Zinsen um die vier Prozent zahlen würde und damit unter den OECD-Ländern zu den Ländern mit den schlechtesten Finanzierungsbedingungen gehören würde (zum Vergleich: Das hochverschuldete Großbritannien zahlte im Krisenzeitraum durchschnittlich rund zwei Prozent). Dies erscheint uns angesichts der niedrigen aktuellen und erwarteten Inflationsraten in Deutschland, milde ausgedrückt, als eine kühne Annahme. Doch soll es hier nicht um die quantitativen Dimensionen gehen, sondern um das Argument als solches.

Dass der deutsche Staat von der Krise durch niedrige Zinsen profitiert, ist zunächst richtig. Wenn sich ein Preis verändert, gibt es stets eine Marktseite, die gewinnt, und eine, die verliert. Es lassen sich allerdings drei Einwände vorbringen:

Erstens haben fast alle Staaten, mit Ausnahme der Krisenstaaten, erhebliche Rückgänge in den Finanzierungskosten verzeichnet. Selbst Frankreich, das kein Triple-A-Rating mehr hat, zahlt nur wenige Basispunkte mehr als Deutschland. Ob es die exzessive weltweite Ersparnis ("saving glut"), die säkulare Stagnation (die Abwesenheit lohnender Investitionsmöglichkeiten) oder der allgemeine Schuldenüberhang ist - die Zinsen sind weltweit auf einem Rekordniedrigniveau.

Zweitens spielt der Euro hier eher eine kompensierende Rolle. Die Schweiz - außerhalb des Euroraums - "profitiert" noch viel mehr und hat durchgehend negative Renditen auf ihre Staatsanleihen. Dort wird das hereinströmende Kapital übrigens mit gemischten Gefühlen gesehen. In einer aktuellen Studie des Internationalen Währungsfonds wird gezeigt, dass Kapitalzuflüsse eine Belastung für die nationale Wirtschaft darstellen, weil der daraus resultierende deutliche Anstieg des Wechselkurses kurzfristig die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Exportindustrie beeinträchtigt. Es ist also aus deutscher Sicht vermutlich erfreulich, dass wir nicht noch mehr "Geschenke" dieser Art bekommen.

Drittens ist Deutschland in der Gesamtheit aus Staat, Unternehmen und Privathaushalten international ein Nettogläubiger. Das heißt, der Zinsrückgang belastet Deutschland im Aggregat. Daher die landläufige Klage über die "Enteignung der Sparer. (Wie stark die Belastung genau ausfällt, hängt freilich vom deutschen Investitionsportfolio ab). Die These, Deutschland habe wegen der niedrigen Zinsen auf deutsche Staatsanleihen von der Euro-Krise profitiert, ist also nicht haltbar.

Fazit: Es gibt viele Gründe dafür, dass Deutschland sich für die Eurozone engagiert. Dass Deutschland zu den großen Gewinnern des Euros zählen würde und fairerweise - als Kompensation für die vermeintlichen Verlierer - diese Gewinne mit anderen Mitgliedstaaten teilen sollte, gehört nicht dazu.

Der Text auf dieser Seite ist ein Vorabdruck des Buches "Der Odysseus-Komplex: Ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise". Verfasst haben es der Präsident des Münchner Ifo-Instituts Clemens Fuest und der Münsteraner Ökonomieprofessor Johannes Becker. Es erscheint am 20. Februar im Carl Hanser Verlag in München. Preis: 24 Euro.