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Bildungsgerechtigkeit als Kernelement der Sozialen Marktwirtschaft

Christina Gathmann, Hans Gersbach, Veronika Grimm und Ludger Wößmann

In einem offenen Brief an den deutschen Wirtschaftsminister fordert der Wissenschaftliche Beirat, dass der Bildungspolitik bei der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft eine zentrale Rolle zukommt. Insbesondere die Chancengleichheit ab dem frühen Kindesalter müsse verbessert werden.

Der Beirat begrüßt die Ankündigung von Bundesminister Altmaier, eine Charta zur Neugestaltung der Sozialen Marktwirtschaft zu entwickeln. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das Konzept der Sozialen Markt­wirtschaft als sehr erfolgreich darin erwiesen, Eigenverantwortung und Wettbewerb mit sozialem Ausgleich zu verbinden. Zunehmend besteht aber die Ansicht, dass dieses Zusammenspiel vor dem Hintergrund der heutigen Herausforderungen nicht mehr im gleichen Maße in der Lage ist, allen Menschen faire Startchancen zu ermöglichen und die Leistungsbereitschaft in der Gesellschaft zu wecken. Über die Ursachen der Schieflage bestehen durchaus unterschiedliche Ansichten. So werden in diesem Zusammenhang sehr verschiedene, für die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft wichtige Aspekte diskutiert, von einer Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von staatlichen Belastungen über eine Stärkung der Gründerstimmung bis hin zu einer Anpassung der Ordnungs­politik an die digitale Wirtschaft.

Trotz ihrer großen gesellschaftspolitischen Bedeutung betreffen viele aktuell diskutierte Aspekte allerdings nicht ein zentrales Versprechen der Sozialen Marktwirtschaft: gerechte Chancen für alle. Ziel muss es sein, alle Menschen zu eigenverantwortlicher Teilhabe am Markt und an der Gesell­schaft zu befähigen. Der Schlüssel hierzu ist eine Bildungspolitik, die gleiche Startchancen schafft. Eine bessere Bildung der Bevölkerung steigert die Produktivität des Faktors Arbeit und ermöglicht höhere Einkommen. Deshalb sollte die Bildungspolitik eine tragende Säule der Sozialen Marktwirt­schaft sein. Diese zentrale Rolle der Bildungspolitik wird sowohl in der ursprünglichen Konzeption als auch in der Diskussion über die Neugestaltung der Sozialen Marktwirtschaft allzu oft vernach­lässigt.

Die zentrale Rolle von Bildung für die wirtschaftlichen Chancen der Menschen

Die Arbeitsmarktforschung zeigt, dass eine gute Bildung heute ein wesentlicher Bestimmungsfak­tor der wirtschaftlichen Chancen jedes Einzelnen ist. Bildung ist eine Investition, die die Menschen in die Lage versetzt, sich ertragreich in die Gesellschaft einzubringen. Wissen, Fähigkeiten und Kompetenzen, die in Kindheit und Jugend erworben wurden, machen später die Produktivität der Beschäftigten und ihr Einkommenspotential aus. Selbst auf dem heutigen boomenden Arbeits­markt, auf dem nur 4 Prozent der Personen mit einer berufsqualifizierenden Ausbildung und 2 Prozent der Akademiker arbeitslos sind, sind nahezu 20 Prozent der Personen ohne berufsqualifi­zierenden Abschluss arbeitslos.[ 1 ] Darüber hinaus geht ein zusätzliches Bildungsjahr im Durch­schnitt auf dem Arbeitsmarkt mit rund 10 Prozent höheren Arbeitseinkommen einher.[ 2 ]

In der Bedeutung der Bildung für die Chancengerechtigkeit am Arbeitsmarkt besteht ein entschei­dender Unterschied zwischen der Nachkriegszeit, in der die Idee und grundlegende Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft umgesetzt wurden, und der heutigen Wirtschaft. Seinerzeit wurde jeder und jede am Arbeitsmarkt gebraucht. Noch bis in die frühen 1970er Jahre hinein hat die deutsche Wirtschaft Gastarbeiter angeworben, weil der Bedarf an Arbeitskräften für geringqualifizierte Tätigkeiten nicht gedeckt werden konnte. Insofern konnten Bildungsaspekte in der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft vernachlässigt werden. Seitdem ist die Arbeitsnachfrage nach geringqua­lifizierten Tätigkeiten hierzulande aber extrem gesunken, getrieben von Trends wie Globalisierung und technischem Fortschritt in Form von Automatisierung. Wer notwendige Kompetenzen in Kind­heit und Jugend nicht erwirbt, erfährt somit einen grundlegenden Nachteil, ohne dass er oder sie die entsprechenden Bildungschancen selbst beeinflussen konnte.

Jenseits der wirtschaftlichen Teilhabe spielt eine gute Bildung der Bevölkerung auch eine wichtige Rolle für die politische Beteiligung, das staatsbürgerliche Engagement und die Akzeptanz der Gesellschaftsordnung.

Der enge Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg

Vor diesem Hintergrund ist es bedenklich, dass der Bildungserfolg in Deutschland noch weit mehr als in vielen anderen Ländern mit Unterschieden in der Herkunft der Kinder und Jugendlichen einhergeht. Die Bildungsergebnisse im frühkindlichen und schulischen Bereich hängen stark damit zusammen, aus welchen sozialen Hintergründen und familiären Einkommensverhältnissen die Kinder und Jugendlichen stammen. Dies bedingt dann auch ungleiche Chancen für den Bildungs­erfolg junger Erwachsener.

Beispielsweise liegen die Mathematikleistungen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status im Durchschnitt etwa vier Schuljahre hinter den Leistungen von jenen mit hohem sozioökonomischem Status zurück.[ 3 ] Selbst bei gleichen kognitiven Fähigkeiten und fachlichen Leistungen ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Lehrkräfte einen Gymnasialbesuch empfehlen, bei Kindern aus Familien mit hoher beruflicher Stellung rund 2,5-mal so hoch wie bei Kindern aus Arbeiterfamilien.[ 4 ] Was die höhere Bildung betrifft, nehmen 79 Prozent der Kinder aus Akademikerfamilien ein Studium auf, verglichen mit 27 Prozent der Kinder aus Nicht-Akademikerfamilien.[ 5 ] Aufgrund des bereits zurückgelegten Bildungsweges sind also zu dem Zeitpunkt, an dem die Menschen selbst mündig werden, die Chancen für den weiteren Bildungs- und Berufsverlauf nicht mehr gleich verteilt.

Bildungspolitik muss die Menschen befähigen, von den Chancen der Märkte zu profitieren

Aus diesen Gründen muss der Bildungspolitik bei der Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft eine zentrale Bedeutung zukommen. Ein Bildungssystem, das allen Kindern und Jugendlichen eine qualitativ hochwertige Bildung vermittelt, ist die zentrale Voraussetzung für eine Chancengerech­tigkeit, die alle Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt, von den Chancen der Marktwirtschaft zu profitieren. Dabei geht es weniger um höhere Bildungsabschlüsse als um die Schaffung eines Fundaments an Kompetenzen, das zur eigenverantwortlichen Teilnahme am gesellschaftlichen Leben befähigt. Deshalb muss die Phase von der frühkindlichen Bildung bis zum Ende des allge­meinbildenden Schulsystems insbesondere auch in den nicht-gymnasialen Schulformen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.

Da Bildung ein dynamischer Prozess ist, der auf dem bisher Erlernten aufbaut, kommt gerade dem frühkindlichen Bildungssystem und den Grundschulen eine wichtige Rolle zu. Sie müssen quantita­tiv und qualitativ so ausgelegt sein, dass auch Kinder aus benachteiligten Verhältnissen gut vorbe­reitet in das weiterführende Bildungssystem eintreten. Dazu bedarf es ebenfalls gezielter Maßnah­men für benachteiligte Gruppen. Auch wenn Bildungspolitik die Aufgaben von Familien nicht erset­zen kann und soll, kann sie ganz entscheidend zu gleichen Startchancen beitragen. Die Forschung hat deutliche Belege geliefert, dass frühkindliche Bildungsprogramme gerade bei Kindern aus benachteiligten familiären Verhältnissen die langfristigen Bildungs- und Arbeitsmarkterfolge sehr effektiv fördern können. Insofern besteht in diesem Fall kein Zielkonflikt zwischen Chancengleich­heit und Effizienz, zumal bei einem entsprechenden Fundament auch spätere Weiterbildungsmaßnahmen effektiver werden.

Die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft

Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als Zusammenspiel von Eigenverantwortung und Wett­bewerb mit Chancengerechtigkeit und sozialem Ausgleich ist ein wichtiges Fundament, um die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Zukunft zu bewältigen. Vor dem Hintergrund von Globalisierung und Digitalisierung bedarf es jedoch neuer Wege des staatlichen Handelns, um Chancengerechtigkeit und sozialen Ausgleich angemessen und wahrnehmbar si­cherzustellen. Eine Gesellschaftsordnung, die stark auf Eigenverantwortung und Wettbewerb setzt und gleichzeitig freiheitlich und menschenwürdig sein will, muss den Menschen zu dem Zeitpunkt, an dem sie beginnen selbständig über ihren Lebensweg zu entscheiden, möglichst gleiche Start­chancen offenhalten.

Von der Frage, ob es in einer Sozialen Marktwirtschaft gelingt, die Menschen in die Lage zu verset­zen, von den Möglichkeiten der freien Wirtschaft zu profitieren, hängt auch die Akzeptanz des Gesellschaftssystems in der Bevölkerung ab. Wenn es den Menschen offenkundig erscheint, dass im bestehenden System keine Chancengerechtigkeit herrscht, schwindet seine Akzeptanz.

Deshalb muss Bildungspolitik als Instrument zur Herstellung gleicher Startchancen zu einer zentralen Säule einer erneuerten Sozialen Marktwirtschaft werden. Der Beirat empfiehlt daher, Bildungsgerechtig­keit als ein Kernelement in die Charta zur Neugestaltung der Sozialen Marktwirtschaft aufzuneh­men.

Referenzen:

1  Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2017). Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten.
2  Z.B. Ludger Wößmann, Franziska Kugler, Marc Piopiunik (2017). Bildung hat Zukunft. Frankfurt: Union Investment.
3  Philipp Lergetporer, Katharina Werner, Ludger Wößmann (2018). Educational Inequality and Public Policy Preferences: Evidence from Representative Survey Experiments. CESifo Working Paper 7192.
4  Heike Wendt u.a., Hrsg. (2016). TIMSS 2015: Mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann.
5  Nancy Kracke, Daniel Buck, Elke Middendorf (2018). Beteiligung an Hochschulbildung: Chancen(un)gleich­heit in Deutschland. DZHW Brief 3/2018. Hannover: Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschafts­forschung.

 

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