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Lernverluste kosten Deutschland 1,5 Prozent der Wirtschaftskraft

Ludgar Wößmann

Die psychologischen, sozialen und ökonomischen Kosten der Schulschließungen sind enorm. Und die Lernverluste der Schülerinnen und Schüler lassen sich beziffern: Deutschland droht ein dauernder Verlust von 1,5 Prozent seiner Wirtschaftskraft. Wollen wir uns das wirklich leisten?


Quelle:
Wirtschaftswoche

Kaum ein Thema war und ist bei den Prioritäten der Coronapolitik so umstritten wie das Öffnen oder Schließen der Schulen. Nach dem ersten Lockdown im Frühjahr waren Baumärkte und Biergärten wieder geöffnet, bevor es auch nur Konzepte für mögliche Schulöffnungen gab. Nach den Sommerferien war dann das Offenbleiben der Schulen unumstößlich, Kanzlerin Merkel erklärte es neben der Wirtschaft zu einer politischen Priorität. Doch Anfang Januar wurde verkündet, dass es jetzt unvermittelbar sei, die Schulen wieder für einen Präsenzunterricht zu öffnen. Die widersprüchlichen Beschwörungen der Politik zeigen, wie kontrovers das Thema Schulschließungen ist. Wie ist es den Schulkindern bei geschlossenen Schulen im Frühjahr ergangen? Wie wirkt sich der erzwungene Fernunterricht auf ihre Zukunftschancen aus? Und in welchem Verhältnis stehen die Folgen der Schulschließungen zu den Erfolgen der Pandemiebekämpfung?

Um zu erfahren, wie die Kinder die Zeit der Schulschließungen verbracht haben, haben wir im Juni eine Umfrage unter mehr als 1000 Eltern durchgeführt. Die wichtigsten Ergebnisse: Die Zeit, in der sich Schülerinnen und Schüler täglich mit schulischen Dingen beschäftigt haben, hat sich während der Schulschließungen halbiert, von 7,4 auf 3,6 Stunden. Mehr als ein Drittel hat höchstens zwei Stunden am Tag gelernt, drei Viertel höchstens 4 Stunden. Der Rückgang war unter Akademikerkindern ähnlich groß wie unter den anderen Kindern. Bei Mädchen fiel er geringer aus als bei Jungen.

Gleichzeitig stieg die mit wenig förderlichen Tätigkeiten, also mit Fernsehen, Computerspielen und dem Smartphone verbrachte Zeit von 4,0 auf 5,2 Stunden täglich. Bei eher förderlichen Aktivitäten - Lesen, Kreatives, Bewegung - gab es hingegen nur einen leichten Anstieg auf 3,2 Stunden. Es waren vor allem leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler, die Lernen durch wenig förderliche Tätigkeiten ersetzten. Kinder mit unterdurchschnittlichen Noten verbrachten während der Schulschließungen täglich 6,3 Stunden mit Computerspielen und Fernsehen, nur 3,4 Stunden mit Schule.

Digitalen Distanzunterricht gab es nur wenig. Nur sechs Prozent der Schülerinnen und Schüler wurden täglich gemeinsamen online unterrichtet; mehr als der Hälfte seltener als einmal pro Woche. Individueller Kontakt mit den Lehrkräften fand noch seltener statt. Für fast alle Kinder und Jugendlichen bedeutete Homeschooling, Aufgabenblätter zu bearbeiten. Damit wurden die Kinder und Familien weitgehend allein gelassen.

Auch die sozial-emotionale Entwicklung wurde durch den fehlenden Kontakt mit Mitschülerinnen und Mitschülern und durch den dauerhaften Aufenthalt in zum Teil engen Wohnverhältnissen belastet. Mehr als ein Drittel der Eltern gab an, dass die Schulschließungen für ihr Kind und für sie selbst eine große psychische Belastung bedeuteten. Wenn wir ehrlich sind, hat das Homeschooling im Frühjahr nicht gut funktioniert.

Darüber, wie groß die Lernverluste sind, gibt es in Deutschland keine Daten. Eine Studie aus den Niederlanden zeigt, dass die achtwöchigen Schulschließungen dort zu einem Verlust an Testleistungen geführt haben, der eins zu eins der Anzahl der geschlossenen Wochen entspricht. Dieser Lernverlust von rund 20 Prozent eines Schuljahres dürfte in Deutschland noch weit umfangreicher ausgefallen sein, weil die Schulschließungen länger andauerten und weil unser Nachbarland eine weit bessere Infrastruktur für digitales Distanzlernen aufweist.

Langfristige anhaltende Lernverluste

Wie wird sich das auf die Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen auswirken? Die Forschung zeigt zum einen, dass einmal ausgefallener Unterricht nicht leicht wieder aufgeholt werden kann. Für streikbedingte Schulschließungen, die Kurzschuljahre der Sechzigerjahre und lange Sommerferien sind jeweils langfristig anhaltende Lernverluste belegt worden.

Zum anderen gibt es in der empirischen Wirtschaftsforschung kaum robustere Befunde als den positiven Einfluss von Schulbesuch und Kompetenzerwerb auf den wirtschaftlichen Wohlstand. Die vorliegende Evidenz legt nahe, dass für den Einzelnen - über das gesamte Berufsleben gerechnet - im Durchschnitt mit einem rund drei Prozent geringerem Erwerbseinkommen zu rechnen ist, wenn ein Drittel eines Schuljahres verloren geht. Auch für die Volkswirtschaft insgesamt müssen wir mit langfristigen Wachstumsverlusten rechnen, mit einer durchschnittlich 1,5 Prozent niedrigeren Wirtschaftskraft bis zum Ende des Jahrhunderts. Das entspräche in Deutschland etwa 2,5 Billionen Euro.

Welche Vorteile stehen diesen Nachteilen von Schulschließungen gegenüber? Zwei Studien, die die Inzidenzwerte nach den Schulferien in verschiedenen Bundesländern vergleichen, kommen zu dem Ergebnis, dass die Öffnung der Schulen nach den Sommerferien, das Schließen vor den Herbstferien und das Öffnen nach den Herbstferien keine nachweisbaren Effekte auf das örtliche Infektionsgeschehen hatten. Die Schulschließungen haben sich bisher nicht als effektives Mittel zur Bekämpfung der Pandemie erwiesen.

Das könnte im Winter anders sein. Auch neue Mutationen des Virus könnten die Lage verändern. Zu bedenken ist weiterhin, dass die Infektionsgefahr bei geschlossenen Schulen unter Kindern niedriger ist, die nur Familienmitglieder treffen - und höher bei Kindern, die sich mehr und unkontrollierter treffen als während der Schulzeit. Vieles deutet im Übrigen darauf hin, dass Infektionen und Übertragungen bei jüngeren Kindern sehr niedrig sind, bei Teenagern höher.

All dies belegt große Unsicherheiten: Niemand weiß genau, wie sich das Pandemiegeschehen in den nächsten Wochen und Monaten mit und ohne Schulschließungen entwickeln wird. Trotzdem müssen wir entscheiden: Entweder gehen Kinder in Schulen oder nicht. Und weil die Nachteile von Schulschließungen enorm sind, müssen sie nicht nur gegen die Vorteile abgewogen, sondern auch im Rahmen einer Gesamtstrategie beurteilt werden, die das Infektionsgeschehen möglichst effektiv und unter möglichst geringen Nebeneffekten einschränkt. Vermutlich würde eine konsequentere Beschränkung der Kontakte in der erwachsenen Bevölkerung die Infektionsraten deutlich effektiver senken.

Wie also geht es jetzt weiter? Während bis kurz vor Weihnachten die meisten Kinder und Jugendlichen zur Schule gehen konnten, gibt es nun mindestens bis Ende Januar keinen Präsenzunterricht. Für Erwachsene dagegen gelten hierzulande vergleichsweise moderatere Einschränkungen. Es gibt keinen effektiven Schutz in Alten- und Pflegeheimen, keine entschiedenen Regeln für Großraumbüros, für andere Arbeitsplätze und Reisen - und geltende Kontaktregeln werden vielerorts nur halbherzig durchgesetzt. Andere europäische Länder haben die Prioritäten andersherum gesetzt: Schulen auf, dafür weit striktere Einschränkungen des öffentlichen Lebens außerhalb der Schulen. Damit haben sie im Herbst und Winter eine Trendumkehr der Infektionen geschafft - bei offenen Schulen.

Hybridmodelle und Onlinevideounterricht

Auch zum unbegleiteten Zuhause-Lernen für alle gibt es Alternativen. Erstens kann man die Schulöffnungen nach dem Alter staffeln: Für die Klassen eins bis sechs sollte Präsenzunterricht so schnell wie möglich stattfinden - selbstverständlich unter Berücksichtigung aller bekannten Schutzmaßnahmen, mit der Staffelung von Unterrichtsbeginn und Pausen. Zweitens wurde in vielen Schulen bereits erfolgreich ein täglicher Wechselunterricht erprobt, bei dem die Hälfte der Jugendlichen zu Hause online per Video am Unterricht teilnimmt. Mit einem solchen Hybridmodell lassen sich in den Schulen größere Abstände einhalten und Kontaktgruppen verkleinern; es gibt Austausch mit Altersgenossen, Treffen mit Lehrkräften und klar geregelte Zeitstrukturen.

Drittens können Lehrkräfte den Stoff auch bei geschlossenen Schulen im Onlinevideounterricht vermitteln. Viele Schulen sind mittlerweile auf digitalen Distanzunterricht vorbereitet, die anderen müssen jetzt folgen. Es bedarf hier umgehend klarer Vorgaben der Politik, dass an allen Schulen für alle Schülerinnen und Schüler täglich in allen Fächern Unterricht per Video stattfinden muss. Wenn wir nur eine Lehre aus dem Frühjahr ziehen sollten, dann die: Das Bereitstellen von Arbeitsblättern ist kein Unterricht. Es wäre verheerend, die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien nochmals wochenlang auf sich allein gestellt zu lassen.

Ludger Wössmann, 47, leitet das ifo Zentrum für Bildungsökonomik und ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München.