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Geduld zahlt sich aus

Lavinia Kinne, Philipp Lergetporer und Ludger Wößmann

Warum sind einige Staaten bei den Pisa-Studien so viel besser als andere? Bildungsökonomen haben die Antwort: Wer weniger aufs Heute und mehr aufs Morgen guckt, ist erfolgreicher.


Quelle:
Süddeutsche Zeitung

Kinder und Jugendliche treffen jeden Tag eine Vielzahl von Entscheidungen. Lerne ich für eine bevorstehende Prüfung oder widme ich mich lieber einem neuen Computerspiel? Auch ihre Eltern müssen, oft unbewusst, ständig entscheiden - helfe ich meinem Kind bei den Hausaufgaben oder habe ich anders zu tun? Bildungsrelevante Entscheidungen wie diese haben eines gemeinsam: Sie bedeuten eine Abwägung, ob man heute auf etwas verzichtet, um später eine bessere Bildung und damit etwa auch mehr Erfolg am Arbeitsmarkt zu haben. Auch politische Entscheidungen haben eine zeitliche Dimension: Die Lorbeeren für öffentliche Bildungsinvestitionen in den Ausbau von Krippenplätzen oder die Digitalisierung von Schulen können oft erst nach Jahren geerntet werden, wenn die betroffenen Kinder erwachsen und die Politiker längst in Rente sind. Da all diese Situationen eine Entscheidung zwischen Gegenwart und Zukunft bedeuten, liegt es nahe, dass die Bildungsleistungen eines Landes damit zusammenhängen, wie geduldig die Bevölkerung ist.

Tatsächlich zeigen internationale Schülertests wie die Pisa-Studie regelmäßig sehr große Unterschiede in den erlernten Mathematik-, Naturwissenschafts- und Lesekompetenzen von Jugendlichen in verschiedenen Ländern. Diese schulischen Leistungen sind wichtig, weil sie sowohl das zukünftige Erwerbseinkommen als auch das nationale Wirtschaftswachstum stark beeinflussen. Doch wie also hängen internationale Unterschiede in Schülerleistungen mit tiefer liegenden kulturellen Faktoren zusammen? Diese Frage untersuchen die Autoren in einer neuen Studie mit Eric Hanushek von der Stanford University. Dabei erweist sich tatsächlich ein kultureller Faktor als zentral: die Geduld.

Bildung ist eine Investition: Zunächst fallen Kosten an - Lernzeit, Mühe und Geld für Lehrkräfte, Lernmittel, Gebäude und dergleichen mehr. Aus ökonomischer Sicht stehen diesen Kosten hohe Erträge gegenüber, denn besser gebildete Menschen sind produktiver und verdienen mehr am Arbeitsmarkt. Allerdings fallen diese Erträge erst weit in der Zukunft an: Es dauert, bis Bildungsinvestitionen wirksam werden.

Ein entscheidender Faktor bei der Abwägung zwischen heutigen Kosten und zukünftigen Erträgen ist die zeitliche Präferenz des möglichen „Investors“: Auf wie viel ist man heute bereit zu verzichten, um davon in der Zukunft zu profitieren? Das gilt etwa bei der Entscheidung, ob man ein Studium aufnimmt oder nicht, aber genauso bei jedem kleinen Bildungsschritt.

Darüber hinaus wird über viele Bildungsaspekte kollektiv entschieden. Ob öffentliche Investitionen getätigt und wie institutionelle Rahmenbedingungen im Bildungssystem gestaltet werden, hängt nicht von den Präferenzen des Einzelnen, sondern von denen der Gesellschaft ab. Deshalb kommt dem kulturellen Aspekt, wie geduldig eine Bevölkerung insgesamt ist, eine Schlüsselrolle zu.

Wie Geduld die Lernergebnisse beeinflusst, hat viele Aspekte. So müssen Kinswe beim Lernen Ausdauer haben, um die Lerninhalte voll zu durchdringen. Ob ich im Unterricht aufpasse oder nicht, ob ich am Nachmittag auf Spielzeit verzichte, um intensiv zu lernen - das hängt unter anderem davon ab, welches Gewicht ich heutiger im Vergleich zu zukünftiger Befriedigung gebe. Ob die Eltern ihre Kinder zum Lernen anhalten und ob die Großeltern ihre Enkel für gute Schulleistungen belohnen, hängt ebenso von deren Zeitpräferenz ab. Und insgesamt: Eine Gesellschaft, die weniger aufs Heute und mehr aufs Morgen schaut, wird eher bereit sein, Mittel für das Bildungssystem bereitzustellen und nachzuhalten, ob die Schülerschaft zufriedenstellende Leistungen erbringt, als andere Gesellschaften.

Um die Rolle von Geduld für Bildungsergebnisse im internationalen Vergleich zu untersuchen, nutzen wir Daten zu den Pisa-Leistungen von fast zwei Millionen Schülerinnen und Schülern in 49 Ländern. Diese kombinieren wir mit einem neuen Datensatz, der vergleichbare Maße für Geduld und andere Präferenzeigenschaften der Bevölkerung in diesen Ländern enthält. Geduld wird mit einem subjektiven und einem objektiven Maß gemessen: Zum einen schätzen die Befragten ihre Geduld selbst ein. Zum anderen geben sie in einer Reihe von Fragen an, wie groß eine Zahlung in der Zukunft sein müsste, damit sie diese einer sofortigen Zahlung vorziehen.

Spitzenreiter bei der Geduld der Bevölkerung ist Schweden, gefolgt von den Niederlanden, den USA, Kanada und der Schweiz. Deutschland liegt an siebter Stelle, weist also eine relativ zukunftsorientierte Bevölkerung auf. Am anderen Ende befinden sich Länder wie Nicaragua, Ruanda und Georgien, aber auch einige europäische Länder wie Ungarn, Griechenland und Portugal. Im Ergebnis zeigt sich im Ländervergleich ein sehr starker positiver Zusammenhang zwischen Geduld und Schülerleistungen.

Auch nach Berücksichtigung zahlreicher weiterer möglicher Einflussfaktoren schneiden Jugendliche in geduldigeren Ländern systematisch besser in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen ab als Jugendliche in weniger geduldigen Ländern.

Der Zusammenhang ist bei den im jeweiligen Land geborenen Jugendlichen stärker als bei denen mit Migrationshintergrund. Weil Letztere neben den kulturellen Faktoren des Aufenthaltslandes oft auch von denen ihres jeweiligen Herkunftslandes beeinflusst werden, spricht dies für die zentrale Rolle der jeweiligen Kultur des Landes.

Die Verhaltensforschung hat gezeigt, dass es wichtig ist, Geduld und einen weiteren für intertemporale Entscheidungen wichtigen Faktor auseinanderzuhalten: die Risiko-Aversion. Da die Zukunft immer ein Element der Unsicherheit enthält, sind Geduld und Risiko-Aversion unausweichlich miteinander verflochten. Auch im internationalen Vergleich zeigt sich, dass Länder mit einem hohen Grad an Geduld systematisch eher bereit sind, größere Risiken einzugehen. Die deutsche Bevölkerung liegt bei dem Maß der Risikobereitschaft im internationalen Mittelfeld.

Die Risiko-Einstellung hat zwei Aspekte. Einerseits gibt es „mutiges“ riskantes Verhalten wie Unternehmertum und Innovationsbereitschaft, andererseits aber auch „gefährliches“ riskantes Verhalten wie die Bereitschaft zu kriminellen Handlungen. In den internationalen Präferenzdaten wird Risiko-Aversion wieder sowohl mit einer subjektiven Einschätzung als auch mit einer Serie von objektiven Einschätzungen gemessen, in denen jeweils eine sichere Zahlung mit dem Ergebnis einer unsicheren Lotterie abgewogen wird. In unserer Analyse ist die Geduld separat berücksichtigt, sodass nur derjenige Aspekt der Risiko-Einstellung einfließt, der nicht mit Zukunftsorientierung zusammenhängt. Insgesamt dürfte die Analyse also eher Aspekte wie die Bereitschaft zum Zocken beim Glücksspiel abfangen als zukunftsorientierte Risikobereitschaft. Der Einfluss von Risiko-Aversion auf Schülerleistungen ist also a priori nicht eindeutig. Einerseits könnten risikoaverse Kulturen weniger bereit sein, in höhere Bildungsabschlüsse mit unsicheren Einkommenserwartungen zu investieren. Andererseits könnte die größere Jobsicherheit höherer Qualifikationen aber gerade risikoaverse Kulturen ansprechen.

Außerdem dürfte eine Kultur der Risiko-Aversion Schülerinnen und Schüler im Bildungsprozess von abträglichem Verhalten abhalten: Da die Gefahr besteht, von der Lehrkraft erwischt zu werden, wenn man im Unterricht nicht aufpasst, werden risikoaverse Kinder eher mitmachen - mit entsprechend positiven Folgen für ihren Bildungserfolg. Gleiches gilt dafür, ob man es darauf ankommen lässt, von den Eltern erwischt zu werden, wenn man die Hausaufgaben nicht macht.

Die Ergebnisse zeigen, dass der zweite Aspekt dominiert: Länder mit größerer Risiko-Aversion schneiden im Pisa-Test deutlich besser ab. Da Geduld und Risiko-Aversion negativ zusammenhängen, werden beide Effekte deutlich unterschätzt, wenn man den Einfluss des jeweils anderen nicht berücksichtigt. Die Bedeutung der beiden kulturellen Merkmale ist immens: Zusammen können sie zwei Drittel der internationalen Unterschiede in den Schülerleistungen der bewerteten Länder erklären.

Bei den einfachen Ländervergleichen ist es schwierig, den Effekt der Geduld von möglichen Effekten anderer Merkmale der jeweiligen Länder wie ihren Bildungssystemen oder Volkswirtschaften zu trennen. Deshalb ist es beruhigend, dass sich der starke Effekt der Geduld in einer weiteren Analyse bestätigt, in der wir in den verschiedenen Pisa-Ländern lediglich die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund betrachten - mehr als 80 000 Jugendliche mit Migrationshintergrund aus 58 Herkunftsländern in 48 Wohnsitzländern.

Diesen Jugendlichen weisen wir jeweils den Wert der Geduld (und Risiko-Aversion) ihres Herkunftslandes zu. So können wir die Leistungen von Kindern aus verschiedenen Herkunftsländern, die im selben Aufenthaltsland zur Schule gehen, untersuchen. Jugendliche aus Herkunftsländern, die ein höheres Maß an Geduld aufweisen, schneiden im selben Aufenthaltsland beim Pisa-Test deutlich besser ab. Dieser Effekt kann nicht von anderen Merkmalen des jeweiligen Aufenthaltslandes herrühren, sondern kann der Geduld zugeschrieben werden.

Die Ergebnisse belegen, dass das intertemporale Entscheidungskalkül, das Bildungsentscheidungen zugrunde liegt, stark von der Geduld der Menschen abhängt. Um gut zu lernen, ist es hilfreich, langfristig zu denken. Wenn kulturelle Faktoren wie die Geduld ein fundamentaler Einflussfaktor auf die Bildungsleistungen sind, stellt dies eine große Herausforderung für die Bildungspolitik dar. Aber sie ist nicht machtlos, denn natürlich ist die Geduld von Kindern nicht unveränderlich. Auch Geduld ist erlernbar und sollte insofern ein wichtiges Ziel von Verbesserungsmaßnahmen sein.

Und nicht zuletzt zeigt die Forschung, dass sich gute institutionelle Rahmenbedingungen wie zentrale Abschlussprüfungen, Schulautonomie und freie Schulträgerschaft unabhängig von der Kultur eines Landes positiv auf die Schülerleistungen auswirken.

Ludger Wößmann ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München und leitet das Ifo-Zentrum für Bildungsökonomik, an dem auch Lavinia Kinne und Philipp Lergetporer arbeiten.