Guest article

Raus aus der Armutsfalle

Ludger Wößmann

Die Zukunftsaussichten vieler Jugendlicher aus sozial schwierigen Verhältnissen sehen nicht rosig aus. Sie leben in vernachlässigten Stadtvierteln, gehen auf Brennpunktschulen. Ihre schulischen Leistungen lassen oft zu wünschen übrig, häufig kümmern sie sich wenig um ihre berufliche oder sonstige Zukunft. Maßnahmen, die allein an den Schulen oder am Arbeitsmarkt ansetzen, haben sich als nicht sonderlich wirksam erwiesen, diesen Jugendlichen zu helfen.


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Sie sind jedoch keine hoffnungslosen Fälle, das zeigen zahlreiche Mentoring-Programme. Sie setzen da an, wo es mangelt. Stark benachteiligte Jugendliche bekommen oft wenig Hilfe von ihren Eltern. Die Programme stellen ihnen jeweils einen Studenten als ehrenamtlichen Mentor zur Seite und bieten ihnen damit Unterstützung, die ihr familiäres Umfeld so nicht bereitstellen kann.

In einer über mehrere Jahre angelegten Feldstudie haben wir die Effekte eines der größten Mentoring-Programme für benachteiligte Jugendliche in Deutschland untersucht. Das Programm "Rock Your Life!" richtet sich an Acht- und Neuntklässler in Hauptschulen und vergleichbaren Schulformen in sozioökonomisch schwachen Stadtvierteln. Seit es 2008 von einer Gruppe von Studenten gegründet wurde, hat das Programm über 7000 Mentoring-Beziehungen in 42 deutschen Städten aufgebaut. Es lebt vom ehrenamtlichen Engagement vieler Studenten, die sich für das Ziel begeistern, einen Beitrag für mehr Chancengerechtigkeit in unserer Gesellschaft zu leisten. Sie werden in Trainings geschult, den Jugendlichen auf dem Weg ins weitere Leben zu helfen.

Den Kern des Programms bilden individuelle Treffen der Mentoren mit ihren jeweiligen Mentees in rund zweiwöchigem Rhythmus. Dass sich die Studenten für sie Zeit nehmen, kann das Selbstwertgefühl der Jugendlichen allein schon stärken und sie motivieren. Oftmals treffen sich die Mentoring-Paare einfach zu gemeinsamen Freizeitaktivitäten wie einem Besuch im Kino oder Zoo. Dabei ergibt es sich auch leicht mal, über die Zukunft zu sprechen. Vielleicht erzählen die Studenten aus der eigenen Schulzeit und helfen den Jugendlichen so, Stresssituationen in Schule oder Familie zu bewältigen. So wollen die Mentoren die Jugendlichen bei der Entfaltung ihrer individuellen Potentiale unterstützen. Sie fördern das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und stoßen eine Auseinandersetzung mit der beruflichen Zukunft an.

Eine Überprüfung, ob das wirklich gelingt, wird dadurch erschwert, dass sich in verfügbaren Datensätzen keine überzeugende Kontrollgruppe von ähnlich benachteiligten Jugendlichen finden lässt, die Aussagen darüber zuließe, wie sich die Jugendlichen ohne die Teilnahme am Mentoring entwickelt hätten. Deshalb haben wir ein Feldexperiment durchgeführt. Wann immer es an einem Standort mehr Bewerber als freie Plätze gab, entschied das Los über die Teilnahme. Durch die zufällige Einteilung bieten die Jugendlichen, die nicht in das Programm gelost wurden, eine überzeugende Kontrollgruppe für die Teilnehmer. Bei entsprechend großer Fallzahl unterscheiden sich die Teilnehmer im Durchschnitt nicht von den Nichtteilnehmern. Auch ethisch ist es am fairsten, wenn durch die zufällige Einteilung jeder dieselbe Chance auf einen der begrenzten Plätze hat. Die Jugendlichen kennen dieses Vorgehen aus ihrem schulischen Alltag. So wird auch die Teilnahme an einem Schüleraustausch verlost, wenn es mehr Interessenten als freie Plätze gibt. Das Projekt wurde von der Wübben Stiftung, der Jacobs Stiftung, Porticus und der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung finanziell unterstützt.

In Mathematik verbessert

Insgesamt haben 308 Jugendliche in 19 Schulen in zehn Städten in ganz Deutschland an der Studie teilgenommen. Samt Pilotschulen und zwei aufeinanderfolgenden Kohorten hat allein die Befragungsphase insgesamt fast vier Jahre gedauert. Eine erste Befragung fand jeweils direkt vor dem Programmbeginn an dem jeweiligen Standort statt, eine zweite ein Jahr danach. Um möglichst viele Jugendliche wieder zu erreichen, haben unsere Teammitglieder über 100 Reisen zu den Teilnehmer-Schulen durchgeführt, in denen sie den Schulleitungen und Lehrern die Evaluationsstudie erläutert, die Jugendlichen in den Schulen befragt und administrative Daten über die Zeugnisnoten gesammelt haben. Solch rigorose Evaluationsstudien sind zwar sehr aufwendig, aber sie können zeigen, welche Maßnahmen tatsächlich wirken, und so den Betroffenen wirklich helfen.

Bei den Jugendlichen aus stark benachteiligten Verhältnissen sind die Ergebnisse äußerst ermutigend. Erstens haben sich die Schulnoten der Programmteilnehmer nach einem Jahr deutlich besser entwickelt als bei den Jugendlichen, die nicht teilgenommen haben. In Mathematik haben sich die Teilnehmer durch das Mentoring-Programm im Durchschnitt um 0,4 Notenschritte verbessert.

Zweitens profitieren die bildungsfernen Jugendlichen auch im nichtkognitiven Bereich. So steigt insbesondere ein Maß für Geduld deutlich an, das ihre Zukunftsorientierung misst und ihre Bereitschaft, Belohnungen auf die Zukunft zu verschieben - Eigenschaften, die für den zukünftigen Erfolg wichtig sind. Selbst bei Sozialkompetenzen gehen die Effekte in die positive Richtung, wenn auch nicht ganz so deutlich. Drittens steigert die Teilnahme am Mentoring-Programm auch die Arbeitsmarktorientierung. Der Anteil der benachteiligten Jugendlichen, die angeben, dass sie nach der Schule eine Berufsausbildung machen wollen, steigt von 44 Prozent in der Kontrollgruppe auf 66 Prozent in der Teilnahmegruppe. Die Teilnehmer sind also deutlich stärker auf eine gute und realistische berufliche Zukunft ausgerichtet.

Die drei Ergebnisbereiche bilden drei Komponenten der zukünftigen Arbeitsmarktaussichten der Jugendlichen ab. Mathematiknoten als kognitive Komponente, Geduld und Sozialkompetenzen als nichtkognitive Komponente und Arbeitsmarktorientierung als motivationale Komponente. Die Arbeitsmarktforschung zeigt, dass alle drei Komponenten den langfristigen Arbeitsmarkterfolg von Jugendlichen gut vorhersagen.

Ein Gesamtbild der Wirksamkeit des Mentoring-Programms ergibt sich, wenn wir die drei Komponenten zu einem Gesamtindex der Arbeitsmarktaussichten kombinieren. Der Effekt des Mentoring-Programms auf die Jugendlichen aus prekären Verhältnissen ist so groß, dass er die gesamte Lücke ihrer Arbeitsmarktaussichten im Vergleich zu Jugendlichen mit günstigerem familiärem Hintergrund schließt. In der Kontrollgruppe erreicht nur ein gutes Drittel der benachteiligten Jugendlichen zumindest den Durchschnitt der Arbeitsmarktaussichten aller Befragten, in der Teilnehmergruppe steigt dieser Anteil auf fast zwei Drittel. Die positiven Effekte finden sich für Mädchen und Jungen gleichermaßen. Auch jenseits der besseren Arbeitsmarktaussichten zeigt sich eine höhere allgemeine Lebenszufriedenheit der Jugendlichen.

Obwohl das Mentoring-Programm vor allem Jugendliche aus sozial prekären Verhältnissen im Blick hat, zeigt unsere Befragung, dass am Programm durchaus auch Jugendliche mit günstigerem familiärem Hintergrund teilnehmen. Im Gegensatz zu den stark benachteiligten Jugendlichen profitieren die Teilnehmer aus günstigeren Verhältnissen jedoch nicht von der Teilnahme am Programm. Mentoring wirkt also vor allem für benachteiligte Jugendliche, denen es besonders an familiärer Unterstützung mangelt.

Die Berufswahl wird erleichtert

Das Mentoring-Programm erreicht auch viele Jugendliche mit Migrationshintergrund. Mit 58 Prozent fällt ihr Anteil unter den Teilnehmern mehr als doppelt so hoch aus wie unter den Jugendlichen in Deutschland insgesamt. Auch für sie findet sich ein positiver Programmeffekt, wobei dieser insbesondere auf den sozioökonomischen Hintergrund und nicht allein auf den Migrationshintergrund zurückzuführen ist. Für Jugendliche, bei denen nicht nur die Eltern, sondern auch sie selbst noch im Ausland geboren sind, ergibt sich ein besonders großer positiver Effekt des Mentoring.

Vertiefende Analysen möglicher Wirkungskanäle zeigen, dass ein nennenswerter Anteil des positiven Effektes darauf zurückgeführt werden kann, dass die Mentoren als Ansprechpersonen bereitstehen, mit denen die Jugendlichen über ihre Zukunft sprechen können. Die Mentoren erweisen sich außerdem als wichtige Quelle für Informationen über die zukünftige Berufswahl. Darüber hinaus steigert die Mentoring-Beziehung bei den Jugendlichen die Einsicht, dass Lernen in der Schule für einen späteren Beruf nützlich sein kann. Für diese Jugendlichen übersteigen die zukünftigen Einkommenserträge, die aufgrund der verbesserten Bildungsleistungen zu erwarten sind, die Kosten des Programms um ein Vielfaches. Eine grobe Überschlagsrechnung kommt bei ihnen auf ein Nutzen-Kosten-Verhältnis von 31 zu 1. Die Befunde zeigen: Mentoring ist eine praktikable Möglichkeit, um die Aussichten stark benachteiligter Jugendlicher auch noch recht spät in ihrer Bildungsbiographie effektiv zu erhöhen. Selbstverständlich können Mentoren niemals die Eltern ersetzen, und das ist auch nicht ihr Ziel. Sie scheinen aber wichtige Elemente der familiären Unterstützung ausgleichen zu können, die vielen benachteiligten Jugendlichen fehlen. So helfen Mentoring-Programme, die Chancengerechtigkeit wirksam zu verbessern.

Ludger Wößmann lehrt Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München und leitet das ifo Zentrum für Bildungsökonomik. Die Studie hat er mit Sven Resnjanskij vom ifo Institut, Jens Ruhose von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Simon Wiederhold von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt erhoben.