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Wege entstehen beim Gehen!

Wirtschaft und Gesellschaft stehen vor einem nachhaltigen Umbau. Die neu entstehenden Strukturen bieten Ostdeutschland neue Chancen. Dabei sollten die ostdeutschen Länder an einem Strang ziehen, erklärt Joachim Ragnitz.


Quelle:
Wirtschaft + Markt, Ausgabe Frühjahr/Sommer 2021

Nicht nur im Bund, auch meisten ostdeutschen Ländern werden in diesem Jahr Landtagswahlen abgehalten: In Sachsen-Anhalt bereits am 6. Juni, in Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen und in Berlin zeitgleich mit der Bundestagswahl am 26. September. Aktuellen Umfragen zufolge dürften in allen betroffenen Bundesländern die aktuellen Koalitionspartner auch die künftige Regierung bilden (in Berlin allerdings möglicherweise unter Führung der GRÜNEN); in Thüringen Ist ungewiss, ob das gegenwärtige Dreierbündnis (aus LINKEN, SPD und GRÜNEN) über eine eigene Mehrheit verfügt oder weiter­ hin auf eine Tolerierung durch andere Parteien angewiesen ist.

Dies heißt nicht, dass es keine „Wechselstimmung" gäbe - aber weil der Unmut über die jeweils bestehende Regierungskoalition oftmals primär der AfD zugutekommt, die als Koalitionspartner nicht in Frage kommt, wird wohl alles beim Alten bleiben. Doch das heißt nicht, dass alles beim Alten bleiben könnte. Die Corona-Pandemie hat wie in einem Brennglas deutlich gemacht, was in der öffentlichen Verwaltung in der Vergangenheit verschludert und verschlampt wurde; angefangen bei der oftmals versprochenen Digitalisierung bis hin zur vorgeblichen Priorisierung von Bildungsinvestitionen.

Die absehbare Verschärfung der Klimaschutz­ auflagen - 65 Prozent CO,-Einsparung gegenüber 1990 bis zum Jahr 2030 - bedeutet gegenüber dem heutigen Stand eine annähernde Halbierung der Treibhausgasemissionen bis zum Ende des Jahrzehnts, was nicht ohne gravierende Einschnitte in unsere bisherige Produktions- und Lebensweise möglich ist. Und schließlich wird Ostdeutschland zur Verhinderung von Arbeitskräftemangel in allen Bereichen jede Menge Zuwanderer aus dem Ausland benötigen - was die Gesellschaft vor erhebliche Integrationserfordernisse stellt und politisch unbedingt sachgerecht begleitet werden muss, um eine weitere Spaltung der Bevölkerung zu verhindern. Die Wahlprogramme der (führenden) Parteien, soweit es überhaupt welche gibt, lassen nicht erkennen, dass diese Herausforderungen ausreichend erkannt und adressiert werden - aber zum Glück dienen Wahlprogramme ja ohnehin nur dazu, dem Wähler ein wohliges Gefühl zu vermitteln; relevanter ist vielmehr, was hinterher in Koalitionsverträgen zwischen den künftigen Regierungspartnern ausgehandelt werden wird. Leider bleibt dem Wähler dann nichts übrig, als die sprichwörtliche „Katze im Sack" zu kaufen und auf die praktische Vernunft handelnder Politiker zu hoffen (was in der Vergangenheit, sieht man einmal von den Wirrungen der Berliner Landespolitik ab, ja auch ganz gut geklappt hat).

Im Vorfeld der anstehenden Wahlen hat sich das Ostdeutsche Wirtschaftsforum ausgiebig mit den Herausforderungen befasst, denen sich die Politik in Bund und Ländern in den kommen­ den Jahren gegenübersieht, und Vorschläge unterbreitet, wie insbesondere der wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland wieder mehr Schwung verliehen werden kann. Dieses Papier wird beim kommenden OWF vorgestellt und ist auf Seite 31 dieser Ausgabe abgedruckt. Grundgedanke dabei ist: Die Zeit des „Nachbau West" ist ein für alle Mal vorbei, denn neue Zeiten erfordern neue Antworten.

CHANCEN FÜR OSTDEUTSCHLAND

Gerade weil die Zeichen in ganz Deutschland auf einen Neubeginn gestellt sind, gibt es aber gute Chancen für die ostdeutschen Länder, denn der notwendige Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft wird sich nicht notwendiger­ weise an bisherigen Strukturen ausrichten: So hat Ostdeutschland beispielsweise überaus günstige Perspektiven mit Blick auf Elektromobilität, Wasserstoffwirtschaft oder auch Erzeugung erneuerbarer Energien; auch bei Künstlicher Intelligenz oder Medizintechnik gibt es erfolgversprechende Potenziale.

Diese Technologien gilt es besonders zu fördern, und zwar entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Ostdeutschland hat aber auch besondere Kompetenzen mit Blick auf strukturelle Umbrüche, die - so ist zu hoffen - künftig gewinnbringend genutzt werden können. Und Ostdeutschland ist trotz aller historischen Gemeinsamkeiten so viel­ fältig, dass gerade diese Vielfalt auch genutzt werden kann, in vielen Bereichen erfolgreich zu sein. Diesen „Mut zum Vorsprung" muss man allerdings fortentwickeln, und hier sollte, ja muss sogar, die Politik eher Vorreiter als Bremser sein.

Gut wäre es, wenn die einzelnen ostdeutschen Länder dabei an einem Strang ziehen würden und sich nicht in lähmenden Verteilungskämpfen untereinander und mit anderen aufreiben würden. Denn die einzelnen ostdeutschen Länder sind jedes für sich genommen auch nicht so groß, als dass sie alles alleine machen könnten. „Wege entstehen beim Gehen", mit diesem Motto sollte die künftige Wirtschaftspolitik in und für Ostdeutschland die notwendigen Veränderungen anpacken - und nicht dadurch, auf ausgetretenen Pfaden (die nur dahin führen, wo andere bereits vorangegangen sind) in die Zukunft zu schreiten.