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Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Freihandel

Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass staatliche Maßnahmen zur Verkürzung von Lieferketten vor Krisen schützten. Auch heimische Hersteller können von Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen betroffen sein. Sicherheit entsteht eher durch Diversifizierung, also dadurch, dass es für wichtige Güter mehrere Lieferanten und Bezugsquellen gibt, sagt Clemens Fuest. 


Quelle:
Wirtschaftswoche

Die Coronapandemie hat das Streben nach Autarkie befördert. Doch das ist der falsche Weg - vor allem für ein exportorientiertes Land wie Deutschland.

Unter Ökonomen mag vieles strittig sein. Doch in einem sind sich die meisten einig: Handel schafft Wohlstand. Das gilt besonders für ein exportorientiertes Land wie Deutschland. Allerdings ist Freihandel kein Selbstläufer. Er setzt voraus, dass die Politik Märkte öffnet und Hindernisse für den grenzüberschreitenden Handel abbaut. Instrumente dafür sind vor allem die Welthandelsorganisation WTO und bilaterale Handelsverträge. Eine am Freihandel orientierte Politik war politisch immer umstritten. Derzeit steht sie jedoch besonders unter Druck. Das hat mehrere Gründe. In der Covid-Pandemie zeigte sich die Anfälligkeit des internationalen Handels für Störungen. Anfänglich schlossen viele Länder ihre Grenzen, nicht nur für den Personenverkehr, sondern auch für Güter, obwohl Letzteres dem Infektionsschutz kaum diente. Die Unterbrechung der Wertschöpfungsketten verstärkte den pandemiebedingten Einbruch der globalen Industrieproduktion.

Der Neustart der Weltwirtschaft mit ihren extrem komplexen und anfälligen Lieferketten funktioniert nach dem tiefen Einbruch nicht reibungslos. Engpässe bei Vorprodukten beeinträchtigen derzeit die Wirtschaftsentwicklung.

Kritik am globalen Handel gab es allerdings schon vor der Pandemie. Der Aufstieg Chinas und anderer Schwellenländer hat dazu geführt, dass Unternehmen und ganze Sektoren vor allem in Ländern mit höheren Lohnkosten unter Anpassungsdruck gerieten, mit teils harschen Folgen für die betroffenen Beschäftigten. In den USA sprach man vom Chinaschock. Globalisierung steigert zwar den Wohlstand insgesamt, schafft aber Gewinner und Verlierer. Das war Wasser auf die Mühlen protektionistischer Strömungen. Die Folgen waren Maßnahmen wie der Buy America Act in den USA sowie die erratischen und aggressiven Handelsscharmützel unter Ex-US-Präsident Donald Trump.

Die USA und die EU befinden sich in einem neuen Systemwettbewerb mit China. Die Sorge wächst, der chinesische autoritäre Staatskapitalismus könnte die demokratischen Industrienationen des Westens wirtschaftlich überholen und damit auch geopolitisch dominieren. Dies führt zu Tendenzen, den wirtschaftlichen Austausch mit China zu begrenzen.

Hinzu kommt eine wachsende Neigung, auch andere als geopolitische Ziele mit der Handelspolitik zu verfolgen. Dazu gehören die Einhaltung von Menschenrechten und die Durchsetzung von Umwelt- und Sozialstandards.

Vor diesem Hintergrund hat sich auch in Europa der Ton in der Handelspolitik geändert. Zunehmend ist von strategischer Autonomie und dem Schutz europäischer Souveränität die Rede. Es wird gefordert, staatliche Maßnahmen zu ergreifen, um Wertschöpfungsketten zu verkürzen und wichtige Vorprodukte in Europa statt in weiter entfernten Ländern herzustellen.

Diese Politik hat erhebliche Risiken. Erstens ist es ein Irrtum, zu glauben, staatliche Maßnahmen zur Verkürzung von Lieferketten schützten vor Krisen. Auch heimische Hersteller können von Naturkatastrophen oder Wirtschaftskrisen betroffen sein. Sicherheit entsteht eher durch Diversifizierung, also dadurch, dass es für wichtige Güter mehrere Lieferanten und Bezugsquellen gibt. Unternehmen streben schon aus Eigeninteresse resiliente Wertschöpfungsketten an. Nach den Erfahrungen in der Pandemie werden viele Firmen Kostensenkungen durch Just-in-time-Produktion einerseits und Robustheit durch Diversifizierung und erhöhte Lagerhaltung andererseits neu austarieren.

Zweitens führen staatliche Eingriffe, die die heimische Produktion fördern und ausländische Lieferanten ausgrenzen, unweigerlich zu Gegenreaktionen in anderen Ländern. Sie können leicht in Handelskonflikte münden, bei denen am Ende alle Seiten verlieren.

Drittens sollte der Schutz europäischer Souveränität nicht bedeuten, Abhängigkeiten per se abzubauen, denn das hätte massive wirtschaftliche Nachteile. Problematisch sind eher einseitige Abhängigkeiten. Viele europäische und gerade deutsche Unternehmen sind stark vom Marktzugang in China abhängig. Allerdings sind die Exporte chinesischer Unternehmen in die EU höher als umgekehrt. Es besteht also eine beiderseitige Abhängigkeit. Das ist positiv, da beide Seiten ein erhebliches Interesse haben, wirtschaftliche und geopolitische Konflikte zu vermeiden.

Nicht zuletzt besteht die Gefahr, dass legitime politische Anliegen instrumentalisiert werden, um protektionistische Partikularinteressen zu befördern.

Deutschland und die EU sollten darauf hinwirken, dass der regelgebundene Freihandel gefördert und ausgebaut wird und internationale Institutionen wie die Welthandelsorganisation WTO als Foren für eine konstruktive Handelspolitik wieder an Gewicht gewinnen. Durch die Digitalisierung entstehen neue Potenziale für Wohlstandsgewinne durch Handel, vor allem bei den Dienstleistungen. Diese Potenziale zu nutzen, könnte die wirtschaftliche Erholung von der Coronakrise entscheidend voranbringen.

Clemens Fuest, 52, ist seit April 2016 Präsident des ifo Instituts und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-MaximiliansUniversität München.