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„Der Kuchen ist kleiner, als wir denken“

Timo Wollmershäuser erläutert, warum das deutsche Bruttoinlandsprodukt trotz Energie-Krise und Ukraine-Krieg leicht gewachsen ist und die Deutschen dennoch weniger Einkommen zur Verfügung haben.


Quelle:
Münchner Merkur und Frankfurter Rundschau Online

Das reale Bruttoinlandsprodukt misst die Größe des Kuchens, der von allen Einwohnern eines Landes gebacken wird. Trotz Energiekrise und hoher Inflation ist dieser Kuchen in Deutschland im Sommer dann doch um 0,3 Prozent größer geworden. Aber geht es uns deshalb wirklich besser? Haben wir mehr Einkommen in der Tasche als noch im Frühjahr? Und können wir uns deshalb mehr leisten?

In Zeiten wie diesen ist die Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts nur ein schlechter Indikator für die Wohlstandsgewinne und -verluste. Zwar misst es die Veränderung des gesamten Wertes der erstellen Waren und Dienstleistungen und damit, ob der Kuchen größer oder kleiner geworden ist. Und es zeigt auch an, ob die Einkommen der privaten Haushalte und der Unternehmer zu- oder abgenommen haben. Allerdings lässt es unberücksichtigt, dass ein Teil der erwirtschafteten Einkommen zur Begleichung der stark gestiegenen Rechnung für importiertes Erdgas und Erdöl an das Ausland abfließt. Deshalb können wir uns mit diesem Einkommen weniger Dinge leisten als vorher und erleiden einen Realeinkommensverlust.

Der gegenwärtige Anstieg der Energiepreise setzte schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine ein. Ausgehend von außergewöhnlich niedrigen Notierungen für Erdgas und Erdöl während der Corona-Krise, kam es bereits im vergangenen Jahr zu einer kräftigen Verteuerung importierter Energie, was unsere Realeinkommen um 35 Milliarden Euro oder 1,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts schmälerte. Im März dieses Jahres beschleunigte sich der Preisauftrieb nochmals spürbar. Auch wenn zwischenzeitlich die Höchststände bei den Erdgas- und Erdölpreisen wohl überschritten sind und die Preise seit dem Sommer sinken, werden sie auf absehbare Zeit wohl kaum auf ihre Vorkrisenniveaus zurückkehren, da Russland als Energielieferant nicht mehr zur Verfügung stehen dürfte. Daher wird wohl auch in diesem und im kommenden Jahr gesamtwirtschaftliche Kaufkraft in Höhe von 64 bzw. neun Milliarden Euro verloren gehen. Dies entspricht 1,8 bzw. 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Insgesamt ergibt sich somit durch die Energiekrise ein Realeinkommensverlust in den Jahren 2021 bis 2023 von rund 3 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Nur während der zweiten Ölpreiskrise in den Jahren von 1979 bis 1981 fiel dieser Verluste mit 4 Prozent noch höher aus. Die Bezifferung der Realeinkommensverluste an das Ausland ist wichtig bei allen Verteilungsdiskussionen. Sie stellen das Stück des in Deutschland erstellten gesamtwirtschaftlichen Kuchens dar, der ans Ausland abgegeben werden muss und eben nicht im Inland verteilt werden kann.

So muss bei Lohnverhandlungen berücksichtigt werden, dass die hohen Preise für in Deutschland produzierte Waren und Dienstleistungen nicht Folge eines Booms sind, der die Gewinne der Unternehmen sprudeln lässt. Sie spiegeln vor allem die hohen Kosten wider, die für importierte Energie und Vorprodukte ans Ausland bezahlt werden müssen.

Das zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern zu verteilende Einkommen muss also um diese Realeinkommensverluste korrigiert werden. Staatliche Unterstützungsmaßnahmen können die Größe des Kuchenstücks nicht verändern. Sie können lediglich Einfluss nehmen auf den Anteil, den einzelne Bevölkerungsgruppen von ihrem individuellen Kuchen abgeben müssen. Und sie können das Kuchenstück über die Zeit hinweg auf zukünftige Generationen verschieben, wenn die Maßnahmen etwa durch Schulden oder weniger Investitionen finanziert werden. Solange Deutschland aber Energie aus dem Ausland importiert und der Preis dafür hoch bleibt, müssen wir einen Teil unserer Einkommen zur Begleichung der Importrechnung an das Ausland abführen. Der Kuchen ist eben kleiner, als wir denken.

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Prof. Dr. Timo Wollmershäuser, Stellvertretender Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen

Prof. Dr. Timo Wollmershäuser

Deputy Director of the ifo Center for Macroeconomics and Surveys and Head of Forecasts
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