Gastbeitrag

Nicht weniger, sondern eine veränderte Globalisierung

Lisandra Flach und Andreas Baur erklären, warum ein Verzicht auf globale Lieferketten mit extrem hohen Kosten für die deutsche Wirtschaft verbunden wäre.


Quelle:
Makronom

Globale Lieferketten werden aktuell von vielen in erster Linie als Risiko dargestellt und nicht selten findet man in den Medien sich nahezu überschlagende Meldungen über mögliche Gefahren und Risiken der internationalen Beschaffung. Weil die Pandemie zu enormen Lieferkettenunterbrechungen und Störungen des Gütertransports geführt hat, konzentriert sich die öffentliche Debatte außerdem nahezu ausschließlich auf den Warenhandel – und vernachlässigt dabei die enormen Veränderungen und Trends, die derzeit im Dienstleistungshandel zu beobachten sind. Ganz außer Frage steht, dass wir über Strategien zur Minimierung von Versorgungsengpässen und Lieferrisiken diskutieren müssen. Diese Diskussion sollte jedoch auf Fakten beruhen und sowohl Alternativszenarien als auch langfristige Trends für eine profunde Analyse berücksichtigen.

Dass eine Pandemie mit Lieferkettenstörungen einhergeht, ist zu erwarten. Das ist nicht in erster Linie ein Problem des internationalen Handels, im Gegenteil: Weil die Corona-Wellen global zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzten, haben in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 die deutschen Exporte aufgrund der stark gestiegenen Nachfrage im Ausland sogar zur wirtschaftlichen Erholung Deutschlands beigetragen. Nach einem starken Rückgang der Produktion am Anfang der Corona-Krise ist der weltweite Handel derzeit auf einem sehr starken Expansionskurs und liegt inzwischen auf einem höheren Niveau als vor der Pandemie. Dieser Expansionskurs bei gleichzeitig reduzierter Produktionskapazität und erheblichen Störungen in der Transportwirtschaft ist einer der Gründe für die massive Materialknappheit, die Unternehmen aktuell zu schaffen macht. Was bedeuten diese Störungen für die Funktionsfähigkeit der globalen Lieferketten und die Zukunft der Globalisierung? Wie wollen die Unternehmen ihre Beschaffungsstrategien angesichts globaler Risiken ändern?

Im Mittelpunkt der Diskussion sollte die Frage stehen, welche konkreten Optionen für die Gestaltung von widerstandsfähigen Lieferketten bestehen. Dies ist nicht nur im Zusammenhang mit Pandemien wichtig, sondern womöglich noch mehr, wenn man die Zunahme von geopolitischen Spannungen, Naturkatastrophen oder Cyber-Risiken berücksichtigt, die ebenfalls zu Versorgungsengpässen führen können.

Bei der Betrachtung von möglichen Alternativszenarien zum aktuellen Status quo muss man zuallererst feststellen, dass ein Verzicht auf globale Lieferketten mit extrem hohen Kosten für die deutsche Wirtschaft verbunden wäre. In einer Studie im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung zeigen wir beispielsweise, dass bei einer Rückverlagerung der Produktion nach Deutschland das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 9,7% zurückgehen würde. Auch die Rückverlagerung der Produktion in benachbarte Länder, beispielsweise in andere EU-Mitgliedstaaten, hätte negative Auswirkungen auf das reale BIP – und dies nicht nur für Deutschland, sondern sogar für die übrige EU. Auch die Unternehmen in Deutschland erkennen offensichtlich, dass die einfache Rückverlagerung ihrer Lieferketten ins Inland keine echte Alternative darstellt, wie wir im Rahmen einer Unternehmensumfrage feststellen konnten.

Das multilaterale Handelssystem als Königsweg

Die konkrete Gestaltung von Lieferketten basiert in erster Linie auf unternehmerischen Entscheidungen. Aus diesem Grund haben wir im Mai 2021 ca. 5.000 deutsche Unternehmen im Rahmen des ifo-Konjunkturtests zu ihren langfristigen Beschaffungsplänen befragt. Es mag im ersten Moment überraschen, dass selbst von Materialengpässen stark betroffene Unternehmen zum größten Teil nicht auf eine verstärkte heimische oder regionale Beschaffung setzen, sondern stattdessen planen, ihre Lieferketten in Zukunft stärker zu diversifizieren.

In der Tat fällt der Anteil der Unternehmen, die ihre Beschaffungsstrategie ändern möchten, in denjenigen Branchen am höchsten aus, welche stark von Materialengpässe betroffen sind, wie z.B. Elektrische Ausrüstung oder Gummi- und Kunststoffwaren. In den genannten Branchen plant sogar mehr als jedes zweite Unternehmen, seine Beschaffungsstrategie neu auszurichten. Fragt man die Unternehmen jedoch nach der Art der Veränderungen, die sie vornehmen wollen, so sind die Diversifizierung von Lieferketten, eine höhere Lagerhaltung sowie die verstärkte Überwachung entlang der Lieferkette die mit Abstand wichtigsten Stellschrauben.

Auch aus volkswirtschaftlicher Sicht ist die Diversifizierung von Lieferketten sinnvoll: Besonders im Vergleich zu einer ausschließlich im Inland organisierten Produktion bietet die internationale Beschaffung von Gütern und Dienstleistungen die Möglichkeit, (länderspezifische) Risiken zu diversifizieren und Lieferketten auf diese Weise robuster zu machen. Der wirtschaftspolitische Königsweg, um von dieser Versicherungsfunktion des internationalen Handels zu profitieren, stellt die Stärkung des multilateralen, regelbasierten Handelssystems dar. Auch in dieser Hinsicht sollte daher einer ambitionierten Reform der Welthandelsorganisation (WTO) höchste Priorität eingeräumt werden. Bilaterale Handelsabkommen können Unternehmen ergänzend dazu einen verbesserten Marktzugang in einer Vielzahl von Ländern in verschiedenen Weltregionen bieten und ermöglichen auf diese Weise zusätzliche Möglichkeiten zur Diversifizierung.

Die ifo-Unternehmensbefragung zeigte allerdings auch, dass es kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) im Vergleich zu Großunternehmen deutlich schwerer fällt, ihre Lieferbeziehungen zu diversifizieren. Für sie ist es häufig mit verhältnismäßig großem Aufwand verbunden, Geschäftsbeziehungen mit mehreren ausländischen Zulieferern aufzubauen und auch die Nutzung unterschiedlicher Handelsabkommen geht für sie häufig mit erheblichem bürokratischen Aufwand einher. Eine mittelstandsfreundlichere Ausgestaltung von Handelsabkommen, beispielsweise durch eine Vereinfachung und Harmonisierung von Ursprungsregeln, könnte diesen Unternehmen die Nutzung von Handelsabkommen deutlich erleichtern und auf diese Weise ebenfalls einen Beitrag zu robusteren Lieferketten leisten.

Digitalisierung des internationalen Handels: ein neuer Globalisierungsschub?

Die aktuellen Diskussionen rund um Lieferengpässe, Störungen in der Containerschifffahrt oder den Rückbau globaler Lieferketten verdecken zum Teil den Blick darauf, dass die durch die Corona-Pandemie beschleunigten Digitalisierungsprozesse das Gesicht des internationalen Handels maßgeblich verändern und auf diese Weise der Globalisierung einen neuen Schub verleihen.

Zum einen verändert sich durch die Digitalisierung grundlegend, was wir grenzüberschreitend handeln: Video- und Musik-Streaming, Online-Spiele, E-Books oder mobile Apps sind Beispiele aus dem Alltag für Produkte, die direkt über digitale Kanäle zu Konsumenten gelangen und dabei immer häufiger Ländergrenzen überschreiten. Aber auch für Industrieunternehmen wächst die Bedeutung des Handels mit Dienstleistungen zusehends. So hat sich im Zuge der Corona-Pandemie gezeigt, dass viele berufliche Tätigkeiten nicht notwendiger Weise eine durchgehende physische Präsenz vor Ort verlangen und daher prinzipiell auch aus dem Ausland erbracht werden können. Zudem werden physische Produkte immer häufiger gemeinsam mit (digitalen) Dienstleistungen verkauft, was neue Synergien zwischen Güter- und Dienstleistungshandel eröffnet.

Auf der anderen Seite bringt die Digitalisierung auch weitreichende Veränderungen bei der Frage mit sich, wie der internationale Austausch von Gütern und Dienstleistungen in Zukunft organisiert und abgewickelt wird. E-Commerce-Plattformen wie Amazon, Alibaba oder MercadoLibre erleichtern zum Beispiel besonders KMU den Zugang zu ausländischen Märkten, da sie die mit internationalen Transaktionen verbundenen Such- und Informationskosten deutlich senken können. Fortschritte bei der maschinellen Übersetzung helfen dabei, Sprachgrenzen zu überwinden und reduzieren somit eine der größten Handelsbarrieren. Und auch im Bereich der Logistik und der Finanzierung des internationalen Handels bieten Künstliche Intelligenz und Blockchain-Technologie vielfältige Einsatzmöglichkeiten, wodurch ebenfalls eine erhebliche Senkung von Handelskosten erreicht werden kann.

Diese Beispiele zeigen, wie vielfältig die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Globalisierung sind. Die damit verbundenen grenzüberschreitenden Datenströme werfen aber gleichzeitig auch weitreichende politische Fragen auf, beispielsweise mit Blick auf Datenschutz, Wettbewerbspolitik oder dem Schutz geistigen Eigentums. Digitalpolitik und Handelspolitik sind in dieser Hinsicht aufs Engste verknüpft und machen einen integrativen Politikansatz auf internationaler Ebene zwingend erforderlich.

Wie die nächste Bundesregierung helfen kann und sollte

Die Globalisierung befindet sich im Zuge der Corona-Pandemie nicht auf dem Rückzug, doch sie wird sich deutlich verändern und insbesondere im Bereich des Dienstleistungshandels stark voranschreiten. Eine Rückabwicklung globaler Lieferketten wäre für eine offene Volkswirtschaft wie Deutschland mit erheblichen volkswirtschaftlichen Kosten verbunden und wird auch von den deutschen Unternehmen selbst relativ selten in Betracht gezogen. Stattdessen setzen die meisten Unternehmen auf eine stärkere geografische Diversifizierung sowie eine bessere Überwachung und verstärkte Lagerhaltung, um ihre Lieferketten widerstandsfähiger zu gestalten.

Die Politik kann und sollte dafür klare und verlässliche Rahmenbedingungen schaffen mit dem Ziel, Handelskosten zu senken und den Zugang zu internationalen Märkten für Unternehmen zu erleichtern. In dieser Hinsicht gibt es noch viel zu tun, wie die ausstehende Ratifizierung mehrerer bereits ausverhandelter Freihandelsabkommen auf europäischer Ebene zeigt. Solche bilateralen Handelsabkommen sind zusammen mit einem funktionsfähigen multilateralen Handelssystem entscheidend dafür, dass Unternehmen noch besser von der Versicherungsfunktion des internationalen Handels profitieren und ihre Lieferketten stärker diversifizieren können. Die Digitalisierung des internationalen Handels und die damit verbundene wachsende Bedeutung des Dienstleistungshandels bieten zudem einmalige Chancen zur sektoralen Diversifizierung der Wirtschaft. Die in diesem Bereich bestehenden Handelsbarrieren, die selbst innerhalb des EU-Binnenmarkts immer noch sehr hoch sind, sollten daher deutlich stärker im Fokus der Politik stehen.

Deutschland selbst steht derzeit kurz vor einem Regierungswechsel. Doch obwohl die deutsche Volkswirtschaft wie kaum eine andere von offenen Weltmärkten profitiert und rund 30% der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung ins Ausland exportiert, werden außenwirtschaftliche Themen in den Wahlprogrammen der Parteien nur stiefmütterlich behandelt. Zwar werden viele handelspolitische Themen letztendlich auf EU-Ebene entschieden, doch dabei kommt Deutschland eine entscheidende Rolle zu: Allein ein Viertel des BIP der EU entfällt auf die deutsche Wirtschaft, zumal der Brexit der Stimme Deutschlands in der EU-Handelspolitik noch größere Bedeutung verliehen hat. Es ist daher zu hoffen, dass die neue Bundesregierung die Außenwirtschaftspolitik zu einem der zentralen Pfeiler ihrer politischen Agenda machen wird.

 

Zu den AutorInnen

Andreas Baur ist Doktorand am ifo Zentrum für Außenwirtschaft.

Lisandra Flach ist Leiterin am ifo Zentrum für Außenwirtschaft und Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Ökonomik der Globalisierung, an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Auf Twitter: @lisandraflach

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Prof. Dr. Lisandra Flach

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