Gastbeitrag

Der Staat kann nicht alle retten

Clemens Fuest

Wie übersteht die Wirtschaft die Corona-Pandemie? ifo-Präsident Clemens Fuest zieht in seinem neuen Buch Lehren aus der Coronakrise und lotet dabei die Grenzen des Sozialstaats aus.


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Es gehört zu den Errungenschaften moderner Wohlfahrtsstaaten, dass sie breite Schichten der Bevölkerung vor wirtschaftlichen Risiken wie Einkommensverlust durch Arbeitslosigkeit oder Krankheit schützen. In der Corona-Krise wird diese Absicherung stark genutzt. Die erste Priorität liegt im Ausbau des Gesundheitswesens. Die Zahl der Betten in den Intensivstationen der Krankenhäuser wird stark erhöht, in Deutschland sogar verdoppelt, ausgehend von einem bereits hohen Niveau. Schutzkleidung, Atemmasken, Medikamente und Beatmungsgeräte werden in großen Mengen bestellt.

Der Sozialstaat stemmt sich außerdem gegen die wirtschaftlichen Folgen der Krise. Menschen, die entlassen werden, erhalten Arbeitslosengeld, auch wenn diese Unterstützung in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ausfällt. In Deutschland ist der Sozialstaat besonders stark ausgebaut. Zwischenzeitlich wurde für mehr als zehn Millionen Menschen Kurzarbeitergeld beantragt. Normalerweise beträgt das Kurzarbeitergeld 60 Prozent des Nettoeinkommens, für Eltern 67 Prozent. In der Corona-Krise wird es bei längerer Bezugsdauer auf bis zu 80 beziehungsweise 87 Prozent erhöht.

Kleine und mittlere Unternehmen erhalten Hilfen, damit sie angesichts stark sinkender Umsätze zumindest die laufenden Kosten wie etwa Mieten oder Leasingraten weiter bezahlen können. Soloselbständige werden ebenfalls unterstützt. Außerdem wird in der Grundsicherung die Vermögensprüfung aufgehoben. Menschen, die wegen der Krise ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten können, sollen unbürokratisch Hilfe erhalten.

Angesichts all dieser Hilfen stellt sich die Frage, wie groß die Möglichkeiten des Sozialstaats zur Absicherung der Bürger sind und wo seine Grenzen liegen. Aus ökonomischer Sicht kann man den Sozialstaat als Versicherung betrachten. Das Versicherungsprinzip funktioniert vor allem dann, wenn nicht alle Bürger gleichzeitig von einem Schaden betroffen sind. Bei normaler Wirtschaftslage trifft das meistens zu. Ob einzelne Menschen in einem Jahr erkranken und im Beruf ausfallen oder nicht, ist schwer vorherzusagen, aber der Anfall an Krankheiten in der Bevölkerung insgesamt ist normalerweise einigermaßen stabil. Zumindest, wenn nicht gerade eine Pandemie ein Land heimsucht.

Das Versicherungsprinzip bedeutet, dass alle einen Versicherungsbeitrag leisten und die Einnahmen in die Behandlung derjenigen fließen, die das Pech haben, tatsächlich krank zu werden. Ähnlich ist es bei Risiken wie Arbeitslosigkeit. Auch ohne Krisen gehört es zur wirtschaftlichen Entwicklung, dass Arbeitsplätze gelegentlich verlorengehen. Die Betroffenen benötigen dann eine gewisse Zeit, um einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Die Arbeitslosenversicherung hilft, diese Zeit zu überbrücken. In Deutschland ist die Arbeitslosenversicherung allerdings beitragsfinanziert. Nur wer über einen Mindestzeitraum hinweg Beiträge eingezahlt hat, erhält Arbeitslosengeld.

Neben dieser beitragsbasierten Absicherung gibt es in Deutschland eine Grundsicherung. Sie soll dafür sorgen, dass niemand unter einen Mindestlebensstandard fallt. Diese Grundsicherung steht allen Bürgern offen, unabhängig von der Frage, ob vorher Beiträge eingezahlt wurden oder nicht. Darüber hinaus existiert in Deutschland eine große Zahl weiterer Sozialleistungen, darunter Kindergeld, Elterngeld, Wohngeld und vieles mehr.

In der Corona-Krise greift die Versicherungsfunktion des Sozialstaats: Unterschiedliche Sektoren und Beschäftigte sind von der Krise sehr unterschiedlich betroffen. Die Corona-Krise ist aber mehr als ein Schock für einen Teil der Wirtschaft, der durch den Rest gut aufgefangen werden kann. Die Verluste sind für die gesamte Volkswirtschaft so erheblich, dass sich die Frage aufdrängt, ob sie die Solidargemeinschaft des Sozialstaats überfordern.

Wo ist die Grenze der sozialstaatlichen Absicherung? Im Prinzip ist das gewählte Ausmaß an Absicherung eine politische Entscheidung. Die wirtschaftlichen Folgen und Lasten dieser Entscheidungen müssen aber tragbar sein. Sozialstaatliche Absicherung kann an finanzielle Grenzen stoßen. Zur Finanzierung von Sozialleistungen müssen Steuern und Abgaben erhoben werden. Steuern zu erheben geht mit Kosten einher, die mit zunehmender Höhe der Besteuerung überproportional wachsen. Das sind nicht nur die Kosten der Ermittlung fälliger Steuern und ihrer Durchsetzung. Steuern führen zu Ausweichreaktionen, ökonomische Entscheidungen werden verzerrt. Die Bereitschaft, zu arbeiten oder zu investieren, sinkt mit wachsenden Steuerlasten. Unternehmen und Menschen mit hohen Einkommen oder Vermögen sind international zunehmend mobil und wandern ab, wenn die Steuerlasten in einem Land relativ zu anderen zu hoch werden.

In den letzten Jahren sind sozialstaatliche Leistungen in Deutschland immer mehr ausgebaut worden. Besonders ausgeprägt ist das im Bereich der Renten. Die Rente ab 63 Jahren, die Mütterrente und die kürzlich beschlossene Einführung der Grundrente gehören dazu. Um zu verhindern, dass die gesetzliche Rente künftig langsamer wächst als die Löhne, wurde in der Rentenversicherung außerdem die sogenannte "Haltelinie" eingeführt. Sie verhindert bis zum Jahr 2025, dass die Rente unter 48 Prozent des Arbeitseinkommens fällt. Eine zweite Haltelinie gilt für den Beitragssatz, der 20 Prozent nicht übersteigen soll. Man kann davon ausgehen, dass bald Forderungen aufkommen, diese Haltelinien über 2025 hinaus zu verlängern. Da die Zahl der Rentenempfänger durch den demographischen Wandel im Zeitablauf steigt, ist klar, dass die Rentenversicherung unter diesen Bedingungen wachsende Zuschüsse brauchen wird, die aus Steuern finanziert werden. Schon heute erhält die Rentenversicherung einen jährlichen Zuschuss, der knapp einem Drittel des Bundeshaushalts entspricht.

Die Rentenversicherung ist aber nicht der einzige Ausgabenposten im Sozialhaushalt, der expandiert. Die Ausgaben der Kranken- und Pflegeversicherung werden mit der Alterung der Bevölkerung ebenfalls überproportional steigen. Die Pensionen für Beamte werden die öffentlichen Haushalte ebenfalls immer stärker belasten. Im Jahr 2018 betrugen die Sozialausgaben in Deutschland 996 Milliarden Euro, rund 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Dabei ist zu bedenken, dass 2018 in Deutschland quasi Vollbeschäftigung herrschte. Die Ausgaben zur Unterstützung von Arbeitslosen waren also sehr niedrig. Das könnte sich in den kommenden Jahren ändern. Eine weitere Expansion der Sozialausgaben ist schon wegen der Alterung der Bevölkerung in Deutschland unausweichlich.

Anderen europäischen Ländern geht es ähnlich. Durch die Kombination aus diesem Anstieg und den Lasten der Corona-Krise droht eine Überforderung. Bereits heute wird zu Recht kritisiert, dass die Steuer- und Abgabenlasten in Deutschland und anderen europäischen Staaten im internationalen Vergleich hoch sind und Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit Europas beeinträchtigen. Trotz der hohen Steuern wird vergleichsweise wenig Geld für staatliche Kernaufgaben wie Verteidigung und innere Sicherheit oder öffentliche Infrastrukturinvestitionen bereitgestellt. In einer Studie aus dem Jahr 2018 dokumentieren die Ökonomen Ludger Schuknecht und Holger Zemanek einen internationalen Trend zu wachsenden Sozialausgaben und warnen davor, dass Sozialausgaben andere wichtige Staatsausgaben verdrängen. Sie bezeichnen diesen Verdrängungsprozess als "soziale Dominanz", in Analogie zum Begriff der "fiskalischen Dominanz", mit dem die Beeinträchtigung der Geldpolitik durch fiskalpolitische Anliegen bezeichnet wird. In dieser Lage ist es unumgänglich, Vorkehrungen zu treffen, um eine Überforderung des Sozialstaats zu verhindern. In der Corona-Krise entsteht gelegentlich der Eindruck, der Sozialstaat sei dafür verantwortlich, die Bürger mehr oder weniger vollständig vor Einkommensverlusten durch die Krise zu bewahren. Die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes auf bis zu 80 Prozent des Nettoeinkommens geht in diese Richtung. Man kann dafür durchaus gute Argumente anführen, beispielsweise das Ziel, die Konsumnachfrage zu stabilisieren. Aber dass es Argumente für die Ausdehnung staatlicher Leistungen gibt, heißt noch nicht, dass die damit einhergehenden Kosten die Ausdehnung rechtfertigen. Entsprechend kann man die Hilfen für Unternehmer und Selbständige im Rahmen der Corona-Krise durchaus kritisch sehen. Die Selbständigen sind von der Sozialversicherungspflicht befreit, weil von ihnen erwartet wird, dass sie privat für Krisenfälle vorsorgen. Die Gewährung von Finanzhilfen in der Corona-Krise passt dazu genauso wenig wie die Aufhebung der Vermögensprüfung in der Grundsicherung. Während abhängig Beschäftigte mit Kurzarbeiter- und Arbeitslosengeld eine Leistung erhalten, die sie selbst mit ihren Beiträgen finanzieren, erhalten Selbständige Hilfen, obwohl sie keinerlei Beiträge entrichtet haben. Man kann darüber diskutieren, ob die Sondersituation der Corona-Krise mit staatlichen Vorgaben für die Schließung bestimmter Sektoren derartige Hilfen rechtfertigt.

Für die Zukunft ist es aber notwendig, dass Selbständige entweder verpflichtet werden, für Notfälle vorzusorgen, oder im Krisenfall an die Grundsicherung mit Fortbestand der Vermögensprüfung verwiesen werden. Analoges gilt für Leistungen der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherungen. Das Argument, es sei unzumutbar, wenn Menschen mit niedrigen Renten ergänzend auf Grundsicherung zurückgreifen müssen, ist mit dem Subsidiaritätsprinzip nicht vereinbar. Es ist richtig, dass durch die Grundsicherung Arbeits- und Sparanreize gestört werden können. Das lässt sich aber durch Anrechnungsregeln lösen, die dafür sorgen, dass eigene Ersparnisse in einem angemessenen Umfang nicht zu Kürzungen bei Leistungen der Grundsicherung führen.

Eine generelle Ausdehnung von Leistungen der Rentenversicherung ist angesichts des vor uns liegenden demographischen Wandels nicht durchzuhalten. Für die Sozialpolitik der kommenden Jahre sind Leitplanken erforderlich, die Kernbestand und Grenzen des Sozialstaats definieren.

Vier Leitlinien sollten in den Vordergrund gestellt werden. Das Äquivalenzprinzip, Flexicurity, Selbstbeteiligung und Subsidiarität. Das Äquivalenzprinzip bedeutet, dass Sozialleistungen und Sozialbeiträge miteinander einhergehen müssen. Dadurch werden Arbeits- und Leistungsanreize geschützt. Wenn der Zugang zu Leistungen der Sozialversicherungen immer mehr Empfängern ermöglicht wird, die keine Beiträge entrichtet haben, wirken Sozialversicherungsbeiträge zunehmend wie Steuern, denen keine direkte Gegenleistung gegenübersteht. Das zerstört Leistungsanreize.

Flexicurity zielt darauf ab, dass Regelungen des Sozialstaats nicht bestehende Beschäftigungsverhältnisse schützen, sondern die Beschäftigten selbst. Es geht darum, flexible Arbeitsmärkte mit sozialer Absicherung zu verbinden. Wenn es richtig ist, dass die Corona-Krise den Strukturwandel beschleunigt, dann folgt daraus, dass sozialstaatliche Regelungen es Menschen erleichtern sollten, bei Verlust des Arbeitsplatzes schnell neue Beschäftigung zu finden. Dazu gehören neben dem Einkommensersatz durch Arbeitslosengeld eine sehr aktive Vermittlung von Arbeitslosen und Fort- und Weiterbildung, die allerdings praxisnah sein sollte.

Das Prinzip der Selbstbeteiligung bedeutet, dass der Sozialstaat keine Vollkasko-Mentalität entstehen lässt. Beispielsweise ersetzt das Arbeitslosengeld nicht das gesamte entgangene Einkommen, sondern nur einen Teil. Diese Selbstbeteiligung gibt es bei vielen Versicherungen in privaten Märkten. Sie hat eine wichtige Funktion. Selbstbeteiligung sorgt dafür, dass die Versicherten ein Interesse daran behalten, Schaden zu vermeiden.

Die vierte Leitplanke ist das Subsidiaritätsprinzip. Es besagt, dass jeder Bürger zunächst selbst für seine wirtschaftliche Existenz verantwortlich ist. Erst wenn das scheitert, springt der Sozialstaat ein. Zur Eigenverantwortung gehört, dass die Bürger sich gegen absehbare Risiken absichern. So lässt sich begründen, dass Arbeitnehmer verpflichtet werden, Beiträge an die Sozialversicherungen zu entrichten. Bei Selbständigen und Unternehmern geht man davon aus, dass sie ohne gesetzliche Verpflichtung für Risiken vorsorgen. Den Bürgern steht darüber hinaus das soziale Netz der Grundsicherung zur Verfügung.

Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip wird jedoch erwartet, dass die Grundsicherung nur beansprucht, wer keine anderen Reserven hat, beispielsweise eigenes Vermögen. Daraus folgt unter anderem, dass die populäre Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens abzulehnen ist. In Deutschland und den meisten europäischen Ländern gibt es bereits ein Grundeinkommen, das vor Armut durch Erwerbslosigkeit schützt. Es ist aber nicht bedingungslos, steht also nur denen zur Verfügung, die es brauchen, weil eigenes Einkommen oder Vermögen fehlt. Das entspricht dem Subsidiaritätsprinzip.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde den Staat finanziell überfordern. Um den rund 80 Millionen Einwohnern in Deutschland ein bedingungsloses Grundeinkommen von beispielsweise 800 Euro im Monat zu zahlen, müsste man im Jahr 768 Milliarden Euro aufbringen. Das gesamte Steueraufkommen in Deutschland betrug im Jahr 2019 799 Milliarden Euro. Darüber hinaus würde das bedingungslose Grundeinkommen einen Teil der Bevölkerung aus dem Erwerbsleben ausschließen. Das hätte höchst negative ökonomische und soziale Folgen.

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Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest

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