Aufsatz in Zeitschrift

Zwischen Notfallmaßnahmen und Strukturreformen: Wie den Energiemarkt zukunftsfähig gestalten?

Roland Berger, Clemens Fuest, Hans-Werner Sinn, Christoph Theis, Peter-Alexander Wacker, Justus Haucap, Mario Liebensteiner, Jonathan Meinhof, Andreas C. Goldthau, Nick Sitter, Sandra Parthie, Anke Weidlich, Mirko Schäfer, Gert Brunekreeft, Marius Buchmann
ifo Institut, München, 2022

ifo Schnelldienst, 2022, 75, Nr. 12, 03-24

Roland Berger, Clemens Fuest, Hans-Werner Sinn, Christoph Theis und Peter-Alexander Wacker stellen ihre Vorschläge für eine neue Strategie in der Energiepolitik vor, die beim Jahrestreffen der Gesellschaft zur Förderung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung (Freunde des ifo Instituts) e.V. im Oktober 2022 diskutiert wurden. So sollte die Stromversorgung breit aufgestellt und der Strommarkt umfassend geöffnet und flexibilisiert werden. Zur Sicherung der Gasversorgung sollte eine eigene Förderung und neue Pipelines ausgebaut sowie die Planungs- und Genehmigungsverfahren erheblich beschleunigt werden.

Justus Haucap, Universität Düsseldorf, Mario Liebensteiner, Universität Erlangen-Nürnberg, und Jonathan Meinhof, Universität Düsseldorf, diskutieren die Vor- und Nachteile der geplanten Maßnahmen zur Senkung der Strompreise – die „Strompreisbremse“ und Veränderungen der „Merit Order“. Sie sehen Chancen in der Preisexplosion: Sie sei ein Investitionsanreiz in erneuerbare Energien und ein Anreiz zum Energiesparen. Dies solle man nicht durch exogene Eingriffe in den Großhandelsmarkt verpuffen lassen. Gerade in Krisenzeiten sei es wichtig, auf Marktmechanismen zu vertrauen und diese zu nutzen, indem man die Energienachfrage senke und in erneuerbare Energien und andere Stromerzeugungsanalagen investiere. 

Andreas C. Goldthau, Universität Erfurt, und Nick Sitter, Central European University (CEU), sehen für die Zukunft des europäischen Energiemarktes zwei eher interventionistische Szenarien, da sie eine Rückkehr zum liberalen Vorkrisenmodell ausschließen. Das erste Szenario bleibt dem liberalen Modell verbunden, favorisiert jedoch Resilienz, mit staatlich forcierten Investitionen in LNG-Terminals, grenzüberschreitender Infrastruktur und dem Ziel struktureller Nachfrageveränderung, weg von fossilen Energieträgern und hin zu Erneuerbaren. Im zweiten Szenario übernimmt der Staat eine zentrale Rolle in der Energiewirtschaft. Energiesicherheit ist Priorität, und die Organisation des Marktgeschehens ordnet sich dessen Primat unter. Eines scheine aber sicher: Das Modell, das den EU-Energiemarkt die letzten Jahrzehnte geleitet habe, sei an seine Grenzen gekommen – ebenso wie das liberale Paradigma, das ihm zugrunde liege.

Sandra Parthie, Institut der deutschen Wirtschaft, ist sich nicht sicher, ob – trotz langer Diskussion darüber – ein europäischer Energiebinnenmarkt oder eine EU-Energieunion geschaffen wird. Denn ob die gegenwärtigen Schwierigkeiten bei der Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit zu mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten führten, bleibe mehr als ungewiss, und eine Änderung der EU-Verträge, die die Zuständigkeit für die Energiepolitik ausschließlich auf EU-Ebene ansiedeln würde, sei unrealistisch. 

Anke Weidlich und Mirko Schäfer, Universität Freiburg, weisen darauf hin, dass die relativen Preisentwicklungen der verschiedenen Endenergieträger für die Elektrifizierung von derzeit fossil betriebenen Energieverbräuchen wichtig sind. Es sollte mittel- bis langfristig auf ein günstiges, also niedriges Verhältnis von Strompreisen zu Preisen für Erdgas, Heizöl und Kraftstoffen hingewirkt werden, damit die erforderliche Elektrifizierung der Wärmeversorgung und Mobilität gefördert werde. Die Verbraucher*innen müssten darauf vertrauen können, dass sie keine hohen Preisrisiken eingehen, wenn sie auf die jeweilige elektrische Option setzen.

Gert Brunekreeft und Marius Buchmann, Jacobs University Bremen, sehen für die Weiterentwicklung des Strommarktdesigns vor dem Hintergrund der Energiekrise drei Herausforderungen: den Aufbau an erneuerbarer und gesicherter Leistung, die bessere Nutzung der Strominfrastruktur durch lokale Preissignale und die Erschließung des Flexibilisierungspotenzials von Lasten über marktbasierte Instrumente.
 

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