Gastbeitrag

Der Wert der Freiwilligenarbeit während der deutschen Flüchtlingskrise

Chang Woon Nam und Peter Steinhoff


Wo der Staat nicht fähig oder gewillt ist, leisten vielmals Freiwillige Hilfe bei der Versorgung oder Integration von Geflüchteten. Eine neue Studie legt offen wer diese Menschen sind – und wieviel der Staat dank ihnen an Ausgaben spart.

Im September 2015 öffnete die deutsche Bundesregierung die Grenzen für Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa waren. Dabei haben sich viele Freiwillige an unterschiedlichen „unbezahlten“ Aktivitäten beteiligt, von der Nahrungsmittelverteilung über die Unterstützung in Flüchtlingsunterkünften bis hin zu Deutschunterricht und langfristiger Integrationshilfe. Die vorliegende Studie geht auf einen spezifischeren Aspekt des Freiwilligeneinsatzes ein, wie er sich in der deutschen Flüchtlingskrise zeigt. Nach der Untersuchung allgemeiner Merkmale der beteiligten Freiwilligen versucht sie, die monatlichen Personal- und Sachkosten als Opportunitätskosten des Freiwilligendienstes zu berechnen, die dank des Engagements dieser Freiwilligen den finanziellen Engpass der lokalen Regierung zu verringern scheinen.

Hochwertige, lokale und regionale Daten über die Freiwilligentätigkeit in Flüchtlingsfragen sind in Deutschland noch nicht verfügbar. Aus diesem Grund greift diese Studie auf eine Umfrage unter den Freiwilligen im Landkreis Erding bei München zurück.[ 1 ] Erding war 2015/16 eines der wichtigsten Erstaufnahme- und Verteilungszentren von in Deutschland eintreffenden Flüchtlingen. In diesem Zeitraum kamen bis zu 60 Flüchtlinge pro Woche in den Landkreis, der über 100 Flüchtlingsunterkünfte gleichzeitig betrieb. Nach Angaben des Landratsamtes Erding, der Agentur für Arbeit und des Arbeitsamtes lag im Dezember 2016 die Gesamtzahl der freiwilligen Helfer für Flüchtlinge bei rund 450. An der Umfrage nahmen 130 Freiwillige im Landkreis Erding teil.

Grundlegender theoretischer Hintergrund

Die Erklärung des Freiwilligendienstes als Ersatz für die abnehmende Rolle des Staates bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen basiert in erster Linie auf der konventionellen Verdrängungstheorie der freiwilligen Bereitstellung öffentlicher Güter (Duncan 2004) kombiniert mit einem so genannten „Warm-Glow Philanthropist Consumption Model“ (Romano und Yildirim 2001).

Die erstgenannte Theorie legt nahe, dass Menschen mit Hinblick auf das Gesamtvolumen öffentlicher Dienstleistungen die Staatsausgaben für solche Dienstleistungen als Ersatz für ihre eigenen Spenden und Beiträge zur Erbringung ähnlicher Dienstleistungen betrachten und umgekehrt. Nach Warr (1983) ist eine vollständige Verdrängung wahrscheinlich, wenn die Geber reine Altruisten sind – d.h. ihr einziges Anliegen die Gesamtmenge der verfügbaren öffentlichen Güter ist.

Die letztgenannte Theorie berücksichtigt zusätzlich die persönliche Zufriedenheit einer Spenderin, die aus ihrem Eigenbeitrag Nutzen zieht. Folgt man diesem Ansatz, sind die Freiwilligen- und Wohltätigkeitsaktivitäten der Bürger „intrinsisch motiviert“. Der Nutzen erwächst ihnen aus ihrer „sozialen Gesinnung“, aus der heraus sie andere Menschen und Gemeinschaften unterstützen. In diesem Fall verdrängen die staatlichen Ausgaben für öffentliche Güter privates Engagement nicht unbedingt eins zu eins, gleichwohl ist ein gewisses Maß an Verdrängung denkbar. Diese beiden Theorien liefern grundlegende Erklärungen dafür, weshalb der Staat dazu neigt, freiwilliges Engagement zu fördern, um Staatsausgaben einzusparen.

Trotz der Schwierigkeiten der mangelhaften Datengrundlage ist die Berechnung des ökonomischen Wertes des Freiwilligendienstes durch die Umwandlung der unbezahlten Freiwilligenzeit in monetäre Begriffe nicht nur ein nützliches Instrument zur Messung des Beitrags der Freiwilligen zur gesellschaftlichen Wohlfahrt, sondern deutet auch darauf hin, dass Freiwilligenarbeit eine wichtige Rolle für das Ausgabeverhalten der lokalen und nationalen Regierungen und die Haushaltsentscheidung spielen kann. 

Für solche Berechnungen kann ein „vergleichbarer“ Marktlohnsatz herangezogen werden:

  • Die „Opportunitätskosten“ der Zeit, die die an unbezahlter Arbeit beteiligten Personen hätten erhalten können, wenn sie die Zeit in bezahlter Arbeit verbracht hätten, oder
  • der „Fachlohn“, der anfallen würde, um einer Spezialistin vom Markt für ihre spezifische Tätigkeit zu bezahlen, oder
  • der „generalistische Lohn“, welcher einem allgemeinen Freiwilligen für die unbezahlte Arbeit bezahlt wird (Ironmonger 2008).

Aktivitäten und Merkmale der freiwilligen Flüchtlingshelfer im Landkreis Erding

Folgt man den Ergebnissen der Umfrage, stimmen die Eigenschaften vieler Flüchtlingshelfer im Landkreis Erding in hohem Maße mit denen sogenannter „Super-Freiwilligen“ überein. Diese sind definiert als gut ausgebildete Menschen im Alter von über 60 Jahren, die zehn oder mehr Stunden pro Woche freiwillig arbeiten (Einolf und Yung 2018). Die folgenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Hauptmerkmale lassen sich im Vergleich zu den bundesweiten Untersuchungsergebnissen von Karakayali und Kleist (2015) feststellen:

  • In Erding überwiegt ebenfalls der Anteil weiblicher Freiwillige (> 65% der Befragten).
  • 56% der Freiwilligenarbeit werden von Einzelpersonen mit einem Nettoeinkommen von mehr als 1.500 Euro pro Monat geleistet. Weitere 15% entfallen auf die Nettoeinkommensgruppe von 1.000 bis 1.500 Euro pro Monat – mehr als 70% der Freiwilligen in Erding schätzen ihre finanzielle Situation ebenfalls als recht stabil ein.
  • Das Engagement junger Freiwilliger ist in Erding schwächer: Die meisten am der Umfrage Teilnehmenden sind älter als 41 Jahre.
  • Die meisten Freiwilligen in Erding arbeiten mindestens einmal pro Woche oder häufiger (81%), und die 130 Befragten leisten insgesamt rund 3.000 Stunden freiwillige Arbeit pro Monat, die sich insbesondere auf medizinische Betreuung (9%), Hilfe bei Behördenangelegenheiten (15%) und Lernunterstützung (26%) konzentrieren.
  • Im Durchschnitt sind Freiwillige in Erding 24,4 Stunden im Monat aktiv, während 55% der Engagierten bis zu 30 Stunden im Monat arbeiten – weitgehend vergleichbar mit 33% der Befragten mit 3 bis 5 Stunden pro Woche und 21,4% mit sogar 6 bis 10 Stunden auf nationaler Ebene.

Berechnungen der monetären Leistungen der freiwilligen Flüchtlingshelfer und ihr Beitrag zu den Kommunalausgaben

Obwohl das Einkommensniveau der meisten freiwilligen Flüchtlingshelferinnen und -helfer über dem Mindestlohn liegt, wird unter der Berücksichtigung der verrichteten Tätigkeiten und aus Vereinfachungsgründen der aktuelle Mindestlohn von 8,84 Euro pro Stunde für die Berechnung ihrer Leistungen herangezogen. Darüber hinaus brachten sie „materielle“ Spenden (inkl. Bereitstellung von eigenen Privatwagen, PC, Telefon usw.) ein, deren monatlicher Wert auf durchschnittlich 66,2 Euro angeben wird. Aus dem Wert der unentgeltlich geleisteten Arbeit und der Sachleistungen ergibt sich eine monatliche Leistung eines durchschnittlichen Freiwilligen von ca. 281,9 Euro (= 215,7 Euro[ 2 ] + 66,2 Euro). In diesem Betrag sind jedoch die Sozialversicherungsbeiträge von 42,9 Euro (= 19,9% von 215,7 Euro) nicht enthalten. Darüber hinaus erhalten die Freiwilligen weder eine Weiterzahlung im Krankheitsfall noch bezahlten Urlaub. Damit würden sich die Personalkosten um weitere 4 % für Krankenstand (= 0,04 x 258,6 Euro = 10,3 Euro) und 8% für bezahlten Mindesturlaub (= 0,08 x 258,6 Euro = 20,7 Euro) erhöhen.

Mit anderen Worten, selbst wenn der ökonomische Wert der Leistung eines durchschnittlichen Flüchtlingshelfers auf Grundlage der „Mindest“-Vergütungsregeln im deutschen Arbeitsrecht berechnet wird, würde sein Ersatz durch eine normale sozialversicherungspflichtig beschäftigte Mitarbeiterin neben den monatlichen Sachkosten von 66,2 Euro monatliche Personalkosten von 290 Euro verursachen. Ausgehend von der Gesamtzahl von 450 freiwilligen Flüchtlingen im Landkreis Erding fasst Tabelle 1 die möglichen monatlichen und jährlichen Opportunitätskosten zusammen.

Tabelle 1: Opportunitätskosten der Freiwilligenarbeit von 450 Flüchtlingshelfern im Landkreis Erding

Opportunitätskosten

Monatlich

Jährlich

Personalkosten

Sachkosten

Gesamtkosten

130.500 Euro

29.799 Euro

160.299 Euro

1.566.000 Euro

357.588 Euro

1.923.588 Euro

Quelle: Eigene Berechnung.

Derzeit liegen die jährlichen Bruttoarbeitskosten für einen Vollzeitbeschäftigten mit der niedrigsten Besoldungsgruppe von Beamten bei rund 34.000 Euro. Mit anderen Worten müssten im Landkreis Erding zusätzliche 45 bis 55 Vollzeitstellen für die Substitution des Freiwilligenbeitrags finanziert werden, um dem ökonomischen Wert der Bemühungen von Flüchtlingshelferinnen und -helfern in der Spitzenzeit 2015/16 gerecht zu werden. Dies würde zu jährlichen 1,9 Millionen Euro Personal- und Sachkosten für die geringere Vergütungsgruppe der lokalen Beamten führen (siehe Tabelle). Dieses Berechnungsergebnis entspricht recht gut der realen Situation: Trotz einer rückläufigen Entwicklung der Flüchtlingszahlen 2017/18[ 3 ] kümmern sich derzeit 46 Beamtenstellen um die Asyl- und Flüchtlingsaufgaben, was zu einer zusätzlichen lokalen Ausgabenbelastung von mehr als zwei Millionen Euro jährlich führt.[ 4 ]

Fazit

Basierend auf der Umfrage liefert diese Studie erste Schätzungen für den ökonomischen Wert des Freiwilligendienstes, die unterschiedlichen Annahmen über die Art der Marktlöhne zugrunde liegen. Trotz der Schwächen hinsichtlich der Repräsentativität der Umfrage (vor allem in Bezug auf die Erfassung der tatsächlichen Einkommensstruktur der Freiwilligen sowie von Produktivitätsunterschieden) zeigt diese Studie nicht nur die monetäre Bedeutung des versteckten Beitrags der Freiwilligen zur Überwindung der deutschen Flüchtlingskrise auf, sondern verdeutlicht darüber hinaus die durchaus erheblich höheren kommunalen Ausgaben, die anfallen, wenn diese Freiwilligen flüchtlingsbezogenen Aktivitäten vollständig durch die der hauptberuflichen Beamten im Landkreis Erding ersetzt werden müssten.

Literatur

Duncan, B. (2004), „A Theory of Impact Philanthropy“, Journal of Public Economics 88, 2159-2180.

Einolf, C.J. und C. Yung (2018), „Super-Volunteers: Who Are They and How Do We Get One?“, Nonprofit and Voluntary Sector Quarterly 47, 789-812.

Ironmonger, D. (2008), The Economic Value of Volunteering in Queensland Update Report, Department of Communities, Queensland Government.

Karakayali, S. und J.O. Kleist (2015), EFA-Studie: Strukturen und Motive der ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit in Deutschland, 2. Forschungsbericht: Ergebnisse einer explorativen Umfrage vom November/Dezember 2015, Berlin: Berlin Institute for Integration and Migration Research (BIM) an der Humboldt Universität Berlin.

Nam, C.W. und P. F.-J. Steinhoff (2018), The Role of Volunteers in German Refugee Crisis and Their Contribution to the Local Government Expenditure, CESifo Working Paper 7352.

Romano, R. und H. Yildirim (2001), „Why Charities Announce Donations: A Positive Perspectives“, Journal of Public Economics 81, 423-447.

Warr, P.G. (1983), „The Private Provision of a Public Good Is Independent of the Distribution of Income“, Economics Letters 13, 207-211.


1 Die Online-Umfrage wurde im Zeitraum vom 15. November 2016 bis 15. Dezember 2016 durchgeführt.
2 Dieser Betrag ergibt sich aus 8,84 Euro x 24,4 Stunden.
3 Anfang 2018 befanden sich im Landkreis Erding 700 Menschen im Asylverfahren und es lebten dort insgesamt 1.176 Flüchtlinge.
4 Siehe das Zeitungsinterview mit Landrat Martin Bayerstorfer am 12.01.2018 in Merkur.de

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