Gastbeitrag

Neodirigismus

Clemens Fuest

Die wirtschaftspolitischen Ideen der siebziger Jahre sind zurück. Ihr Kennzeichen ist der Glaube, der Staat könne durch direkte Vorgabe von Marktergebnissen wirtschaftliche Probleme besser lösen als der Wettbewerb. Die Erfahrung lehrt das Gegenteil.


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Zeitung. S.16

Derzeit vergeht kaum ein Tag, ohne dass gesellschaftliche und ökonomische Missstände auf eine angeblich neoliberale Politik zurückgeführt werden. Bankenpleiten, wirtschaftliche Ungleichheit, Populismus, verspätete Züge, Wohnungsmangel oder Umweltverschmutzung, all dies wird dem Neoliberalismus angelastet. Eigentlich bezeichnet dieser Begriff eine historische Denkrichtung, die angesichts der Weltwirtschaftskrise der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht etwa weniger, sondern mehr staatliche Rahmensetzung forderte, um die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft zu verbessern. Wer heute von Neoliberalismus spricht, meint aber meistens eine übermäßige Marktgläubigkeit und einen Rückzug des Staates aus Feldern, in denen er eigentlich gebraucht wird.

Tatsächlich ist von einem Rückzug des Staates aus der Wirtschaft in Deutschland wenig zu sehen. Die Staatseinnahmenquote lag 2018 nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds bei 46,4 Prozent und damit höher als in allen Jahren seit der Wiedervereinigung mit Ausnahme des Jahres 1999, als diese Quote kurzzeitig 46,5 Prozent erreichte. Das Fraser Institute ermittelt jährlich für viele Länder den Grad an ökonomischer Freiheit. Nach dem Fraser-Index erreichte die ökonomische Freiheit in Deutschland ihren bisherigen Höchstwert im Jahr 2000, seitdem ist sie leicht gesunken. Die Aussagekraft solcher Indikatoren ist begrenzt, aber ein Rückzug des Staates aus der Wirtschaft sieht anders aus.

Die inflationäre Verwendung des Begriffs Neoliberalismus ist insofern paradox, als die politische Debatte in Deutschland zunehmend von einer Haltung geprägt ist, die das Gegenteil von liberal oder neoliberal ist: Man kann diese Haltung als Neodirigismus bezeichnen. Neodirigismus zeichnet sich durch die folgenden Charakteristika aus: Erstens besteht ein geringes Vertrauen in die Fähigkeit von Märkten, Preismechanismen und Wettbewerb, wirtschaftliche Probleme zu lösen. Stattdessen wird staatlichen Institutionen zugetraut, durch steuernde Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen bessere Ergebnisse zu erzielen. Zweitens gehört zum Neodirigismus die Vorstellung, dass ökonomische Anreize für wirtschaftliche Entscheidungen keine zentrale Rolle spielen. Daraus folgt drittens die These, dass der Staat durch Preisregulierungen, Sozialtransfers oder Steuern Einkommen umverteilen kann, ohne dass größere Ausweichreaktionen und schädliche Nebenwirkungen zu befürchten sind. Diese Haltung erinnert an den wirtschaftspolitischen Dirigismus der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Die Ausbreitung neodirigistischer Vorstellungen in Deutschland ist in vielen Politikbereichen sichtbar. Das wichtigste Beispiel ist die Umwelt- und Klimapolitik. Um beim Schutz der Umwelt unnötige Kosten zu vermeiden, sind Preissignale unentbehrlich. Sie sorgen dafür, dass Umweltbelastungen dort vermieden werden, wo die Kosten der Vermeidung am niedrigsten sind. Die deutsche Klimapolitik hat jahrzehntelang die Einführung eines einheitlichen CO2-Preises verweigert. Stattdessen hat man auf ein Sammelsurium von nicht aufeinander abgestimmten Maßnahmen gesetzt, die viel Geld gekostet haben. Trotzdem verfehlt Deutschland seine Klimaziele.

Mittlerweile hat man sich darauf geeinigt, einen einheitlichen CO2-Preis anzustreben. Die positiven Wirkungen dieses Instruments werden aber durch eine Vielzahl ergänzender, lenkender Eingriffe überlagert. Es ist beispielsweise kontraproduktiv, zusätzlich zu einem einheitlichen CO2-Preis Flottenverbräuche für Autohersteller vorzuschreiben, wie es mit der EU-Verordnung zu CO2-Emissionen von Autos geschieht. Diese Verordnung legt fest, dass die CO2-Emissionen von Neuwagen zwischen 2021 und 2030 um 37,5 Prozent reduziert werden müssen. Sinn des einheitlichen CO2-Preises ist es eigentlich, dass sich im Wettbewerb herausstellt, wo CO2-Emissionen zu den geringsten Kosten eingespart werden können. Wenn die massive Senkung von Emissionen bei Autos die kostengünstigste Art ist, die Ziele zu erreichen, wird sich das auch ohne Regulierung ergeben. Aber es ist durchaus denkbar, dass die Senkung des CO2-Ausstoßes in anderen Sektoren, beispielsweise bei den Gebäudeheizungen, weniger Kosten verursacht. Dann wird durch die CO2-Verordnung für Autos das Erreichen der Klimaziele unnötig verteuert.

Es ist auch nicht zielführend, zusätzlich zum CO2-Preis das Errichten von Sonnenkollektoren und Windrädern zu subventionieren und dabei auch noch Ausbauziele für einzelne Technologien vorzugeben. Der CO2-Preis allein sorgt schon dafür, dass Energiequellen, die kein CO2 ausstoßen, einen Kostenvorteil haben. Auch untereinander sollten erneuerbare Energiequellen miteinander konkurrieren. Darüber hinausgehende Förderung und politische Lenkung des Ausbaus einzelner erneuerbarer Energien erhöht ebenfalls die Kosten des Klimaschutzes.

Oft wird argumentiert, zusätzliche Maßnahmen wie Subventionen für erneuerbare Energien würden die gesellschaftliche Akzeptanz höherer CO2-Preise unterstützen und so den Klimaschutz fördern. Das überzeugt nicht. Da derartige Eingriffe den Einsatz klimaschützender Energien verzerren und so den Klimaschutz verteuern, untergraben sie letztlich klimapolitische Ziele. Hinzu kommt, dass das Ausmaß an CO2-Emmissionsabbau für Deutschland und Europa ohnehin durch internationale Verpflichtungen vorgegeben ist. Förderung sollte sich auf Forschung und Entwicklung neuer Technologien konzentrieren, nicht auf die flächendeckende Subventionierung des Ausbaus bekannter Technologien.

Private Investitionen werden in der öffentlichen Debatte kaum beachtet

Aus alldem folgt nicht, dass ein CO2-Preis allein hinreichend ist, um Klimaziele effizient zu erreichen. Zusätzliche Eingriffe müssen aber wohldurchdacht und auf den CO2-Preis abgestimmt sein. Sie werden in Fällen gebraucht, in denen der CO2-Preis nicht wirkt. Beispielsweise senkt die bessere Wärmedämmung von Gebäuden die Heizkosten für Mieter. Wenn die Kosten dafür aber aufgrund von Mietregulierungen nicht vollständig auf Mieten umlegbar und deshalb teilweise von Vermietern zu tragen sind, werden steigende CO2-Preise nicht dazu führen, dass Gebäude im richtigen Umfang isoliert werden. Denn dann entstehen dem Vermieter hohe Kosten, aber keine entsprechenden Vorteile aus der Wärmedämmung. Wenn man diese Mietregulierungen nicht ändern will, kann es sinnvoll sein, ergänzend finanzielle Anreize für Vermieter zu schaffen, damit sie in Wärmedämmung investieren.

Unnötiger Dirigismus schadet auch in anderen Bereichen der Umweltpolitik, etwa der Begrenzung von Feinstaubemissionen in Innenstädten. Eine intelligente Nutzung von Marktmechanismen führt zu besseren Ergebnissen. Statt Verbote zu fordern, sollte man auf flexible Mautsysteme setzen. Bei hoher Feinstaubbelastung sorgen steigende Mautgebühren dafür, dass nur diejenigen mit dem Auto in die Stadt fahren, für die ein Verzicht auf das Auto mit hohen Kosten verbunden wäre. Handwerker, die eine Einbauküche anliefern, können kaum auf ihren Lieferwagen verzichten. Wer dagegen zu einem Kinobesuch in die Stadt will, wird auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen. Viele Politiker ziehen jedoch Fahrverbote vor. Die haben aber den Nachteil, nicht zwischen den sehr unterschiedlichen Konsequenzen des Verbots für einzelne Autofahrer zu unterscheiden - die Eindämmung der Feinstaubbelastung wird damit gesamtwirtschaftlich deutlich teurer als nötig.

Ein anderes Beispiel für Neodirigismus ist die Debatte über Investitionen in Deutschland. Auch hier wird staatlichen Entscheidungen über die Ressourcenverwendung gegenüber privaten der Vorrang eingeräumt. Ökonomische Anreizwirkungen werden ignoriert. Während laut gefordert wird, die öffentlichen Investitionen auszuweiten, werden private Investitionen kaum beachtet. Dabei ist das Volumen der privaten Investitionen etwa neunmal so hoch wie das der öffentlichen. Man kann durchaus der Meinung sein, die öffentlichen Investitionen, die in den vergangenen Jahren schon gestiegen sind, müssten weiter erhöht werden. Aber auch das würde nichts daran ändern, dass die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands vor allem im Bereich der privaten Investitionen entschieden wird.

Um hier voranzukommen, sind bessere Rahmenbedingungen erforderlich. In der Unternehmensbesteuerung werden derzeit durch Verlustausgleichsbeschränkungen riskante gegenüber weniger riskanten Investitionen diskriminiert, im internationalen Vergleich ist die Steuerlast zu hoch. Außerdem wird eine verlässliche Versorgung der Industrie mit bezahlbarem Strom benötigt.

Statt die Bedingungen für private Investitionen zu verbessern, werden zusätzliche Belastungen diskutiert und mit Umverteilungszielen gerechtfertigt. Eine Reform der Unternehmensbesteuerung oder Entlastungen bei der Einkommensteuer werden als "Steuergeschenke" zurückgewiesen. Stattdessen soll die Belastung durch eine Vermögensteuer erhöht werden. Die damit verbundenen ökonomischen Fehlanreize werden geleugnet. Niedrigere Unternehmensbesteuerung, so die Behauptung, würde nicht zu mehr Investitionen in Deutschland führen, Vermögensteuern nicht zu einer Kapitalflucht. Dass viele Studien das Gegenteil zeigen, wird ignoriert. Aus der Existenz negativer Nebenwirkungen von Steuern allein folgt nicht, dass man sie senken oder gar nicht erst erheben sollte. Aber diese Wirkungen müssen bei der Abwägung von Kosten und Nutzen finanzpolitischer Reformen ernst genommen werden.

Ein besonders krasses Beispiel für neodirigistische Politik ist der Fall des Berliner Mietendeckels. Die Politik verlässt sich hier darauf, dass man Mieten durch Regulierung senken kann, ohne dass das Folgen für das Angebot an Mietwohnungen hat. Tatsächlich zeigen Erfahrungen mit Mietregulierungen aber, dass sie Wohnungsbauinvestoren verschrecken und das Wohnungsangebot verknappen. Aus der Kritik am Mietendeckel folgt keineswegs, dass die Politik den Wohnungsmarkt sich selbst überlassen sollte. Durch politische Entscheidungen wie die Baulandausweisung oder die Gestaltung von Standards für Neubauten beeinflusst staatliches Handeln ohnehin die Entwicklung des Wohnungsmarktes. Aber Wohngeld und sozialer Wohnungsbau sind bessere Instrumente als ein Mietendeckel. Sie sorgen dafür, dass mehr Wohnungen verfügbar sind, während der Mietendeckel die Wohnungsknappheit verstärkt. Letztlich schädigt der Mietendeckel Menschen, die eine Wohnung suchen, und verteilt zugunsten derjenigen um, die bereits eine haben.

Typisch für Neodirigismus im Bereich der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik ist die Forderung nach der "Überwindung" der Agenda-2010-Reformen. Auch hier wird die Rolle ökonomischer Anreizwirkungen geleugnet. Dass Empfänger von Hartz-IV-Leistungen verpflichtet werden, sich um Beschäftigung zu bemühen, wird als unzumutbar zurückgewiesen. Anreize zur Arbeitsaufnahme seien nicht erforderlich. Arbeitslose nicht nur zu unterstützen, sondern von ihnen auch Anstrengungen bei der Jobsuche einzufordern, sei unzumutbar. Es ist durchaus richtig, nach einem guten Jahrzehnt und bei veränderter Arbeitsmarktlage zu fragen, ob die Regeln, die im Niedriglohnbereich gelten, noch angemessen sind. Dabei sollte aber die Frage im Mittelpunkt stehen, wie Anreize zur Arbeitsaufnahme und eine Förderung von Menschen in diesem Arbeitsmarktsegment weiter verbessert werden können. Ein zentrales Problem in diesem Bereich besteht darin, dass verschiedene, nicht aufeinander abgestimmte Transfers und Abgaben dazu führen, dass Mehrarbeit sich nicht lohnt und eine Art Teilzeitfalle entsteht.

Auch in der Industriepolitik gewinnen dirigistische Eingriffe an Unterstützung. Voller Bewunderung schauen viele auf die Strategie "Made in China 2025", in der die chinesische Regierung zehn Sektoren benannt hat, in denen das Land bis 2049 weltweit führend sein will. Oft wird gefordert, Deutschland oder Europa sollte mit einer ähnlich klaren Zielvorgabe Industriepolitik betreiben und existierende Großunternehmen privilegieren, um "europäische Champions" zu schaffen. Dabei wird vernachlässigt, dass China ein Land ist, das in der industriellen Fertigung nach wie vor aufholt. In dieser Lage kann Nachahmung durchaus sinnvoll sein, auch wenn man bezweifeln kann, dass China mit den zehn Sektoren der "Made in China 2025"-Strategie die eigenen komparativen Vorteile richtig einschätzt. Deutschland dagegen bewegt sich an der Technologiegrenze. In einer solchen Lage ist es vielversprechender, Innovationen breit zu fördern, ohne Festlegung auf bestimmte Branchen oder Technologien.

Negative Bewertungen der marktwirtschaftlichen Ordnung

Die Verteidigung der marktwirtschaftlichen Ordnung gegen dirigistische Eingriffe ist in der breiten Bevölkerung nicht sonderlich populär. Das zeigen Meinungsumfragen. Die Aussage, dass der Staat sich aus der Wirtschaft eher heraushalten sollte, unterstützten 32 Prozent der deutschen Bevölkerung im Jahr 2018, mehr als 50 Prozent lehnten sie ab. Wenig und im Zeitablauf sinkende Unterstützung für eine freiheitliche Wirtschaftsordnung zeigt sich auch bei der Beurteilung der These, Sozialismus sei im Grunde eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde. 39 Prozent der westdeutschen Bevölkerung stimmten dieser Aussage im Jahr 1991 zu, immerhin kurz nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa. Im Jahr 2018 lag die Zustimmung bei 49 Prozent. In Ostdeutschland liegt die Zustimmungsquote konstant über 70 Prozent. Man soll derartige Umfragen nicht überbewerten. Trotzdem sind diese negativen Bewertungen der marktwirtschaftlichen Ordnung schwer in Einklang zu bringen mit einem wichtigen Faktum: Umweltschutz und Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten sind bislang ausschließlich in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften erreicht worden.

Dass die Korrektur von Marktversagen und die soziale Sicherung einschließlich umverteilender Besteuerung zentrale Staatsaufgaben sind, darüber besteht Konsens. Umstritten ist, was das im Einzelfall bedeutet. Neodirigismus bringt die Gefahr mit sich, dass ideologisch motivierte, über die erforderliche Rahmensetzung hinausgehende Interventionen Wachstum und Beschäftigung, aber auch das Erreichen umweltpolitischer Ziele untergraben. Es besteht das Risiko, dass Deutschland die zugesagten Beiträge zur Eindämmung des Klimawandels nur zu unnötig hohen Kosten oder gar nicht erreicht.

Der Versuch, durch direkte Vorgabe von Marktergebnissen - wie beispielsweise die gesetzliche Senkung von Mieten - Verteilungsziele zu verfolgen, verschärft Wohnungsknappheit, statt sie zu lindern. Politik und Öffentlichkeit in Deutschland brauchen mehr Offenheit dafür, Märkte und Wettbewerb in Kombination mit staatlicher Regulierungspolitik klug zu nutzen, um wirtschafts-, sozial- und umweltpolitische Ziele zu erreichen.

 

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