Gastbeitrag

Corona-Schulschließungen treffen leistungsschwächere Schüler*innen besonders hart

Elisabeth Grewenig, Philipp Lergetporer, Katharina Werner, Ludger Wößmann, Larissa Zierow

Unsere Umfrage zeigt, dass deutsche Schulkinder während der Corona-bedingten Schulschließungen ihre tägliche Lernzeit auf die Hälfte reduzierten. Besonders leistungsschwächere Kinder ersetzen Lernzeit durch wenig förderliche Aktivitäten wie Computerspielen. Die Ergebnisse betonen die Bedeutung verbindlicher Konzepte für Distanzunterricht bei Schulschließungen, die sich besonders an leistungsschwächere Schüler*innen richten.


Quelle:
Ökonomenstimme

Um die Ausbreitung der COVID-19-Pandemie zu verlangsamen, wurden im Laufe des ersten Halbjahres 2020 in vielen Ländern die Schulen für mehrere Monate geschlossen. Schon früh wurde erwartet, dass die Schulschließungen zu erheblichen Lernausfällen bei den Schüler*innen führen werden (vgl. Burgess und Sievertsen 2020). Schätzungen legen nahe, dass der Verlust eines Drittel Schuljahres – wie in Deutschland im Frühjahr geschehen – über das gesamte spätere Berufsleben mit durchschnittlich rund 3 Prozent geringerem Erwerbseinkommen einhergeht (Wößmann 2020, Hanushek und Wößmann 2020). Doch wie haben die Schulkinder die Zeit der Schulschließungen eigentlich verbracht? Wer war besonders betroffen? Und wie haben Eltern und Schulen die Schließungen kompensiert? Um diesen Fragen nachzugehen, haben wir eine Befragung von über 1.000 Eltern in Deutschland durchgeführt, die wir in einer neuen Studie analysieren (Grewenig et al. 2020).

Schulschließungen und der Mangel an pädagogischer Unterstützung

Es wird häufig argumentiert, dass die Schulschließungen die Ungleichheit zwischen Kindern mit unterschiedlichem familiärem Hintergrund verstärken könnten (z.B. European Commission 2020, UNESCO 2020). Wir argumentieren, dass eine weitere Dimension von Ungleichheit für Schulschließungen besonders relevant sein könnte: diejenige zwischen leistungsschwächeren und -stärkeren Schüler*innen. Außerschulisches Lernen erfordert ein hohes Maß an selbstreguliertem Lernen, bei dem sich die Schulkinder Lerninhalte selbstständig und ohne Unterstützung durch ausgebildete Pädagog*innen aneignen und verstehen müssen. Während selbstreguliertes Lernen bei Schulschließungen für leistungsstärkere Schüler*innen machbar sein mag, kann es für leistungsschwächere Schüler*innen eine große Herausforderung darstellen.

Ein entscheidendes Merkmal von Schulschließungen ist, dass Kinder und Jugendliche nicht die gleiche Unterstützung durch ausgebildete Lehrkräfte erhalten wie im traditionellen Präsenzunterricht. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Lehrkräfte wahrscheinlich der wichtigste schulische Einflussfaktor für den Bildungserfolg von Schüler*innen sind (z.B. Rivkin et al. 2005, Chetty et al., 2014). Lehrkräfte führen wichtige traditionelle Lehrtätigkeiten aus: Sie erklären neues Material und geben lernstimulierende Rückmeldungen. Unsere Daten zeigen, dass während der Schulschließungen in Deutschland, wie auch in anderen Ländern, kaum direkter Kontakt zwischen Schüler*innen und Lehrer*innen zustande kam (vgl. Andrew et al. 2020 für ähnliche Befunde aus England). Stattdessen mussten die Schüler*innen meist selbstreguliert lernen. Die Kompetenzentwicklung ist ein Prozess dynamischer Komplementaritäten, in dem bestimmte Basiskompetenzen erforderlich sind, um weitere Kompetenzen zu erlernen (z.B. Cunha et al. 2006). Daher ist es naheliegend, dass Schulkindern mit geringeren Basiskompetenzen oft das Wissen und die Fähigkeiten fehlen, um durch selbstreguliertes Lernen zusätzliche Lernerfolge zu erzielen. Wenn die Erträge der in unabhängige Lernaktivitäten investierten Zeit zu gering sind, ist zu erwarten, dass leistungsschwächere Schüler*innen die Lernzeit durch andere Aktivitäten ersetzen, die für sie lohnenswerter sind.

Eine Umfrage zur Zeitnutzung von Schüler*innen vor und während der Schulschließungen

Um zu untersuchen, wie sich die Corona-Schulschließungen auf die Lernzeit und andere Aktivitäten von leistungsschwächeren und -stärkeren Schulkindern auswirkten, haben wir im Juni 2020 eine Online-Umfrage unter 1.099 Eltern schulpflichtiger Kinder in Deutschland durchgeführt. In unserer detaillierten Zeitbudgeterhebung messen wir, wie viele Stunden pro Tag die Schüler*innen vor und während der Schulschließungen mit verschiedenen Aktivitäten verbrachten. Wir unterscheiden zwischen (1) schulbezogenen Aktivitäten wie Schulbesuch oder Lernen zu Hause; (2) Aktivitäten, die allgemein als förderlich für die kindliche Entwicklung angesehen werden, wie Lesen, Musizieren, kreatives Gestalten oder Sport; und (3) Aktivitäten, die allgemein als nicht förderlich für die kindliche Entwicklung angesehen werden, wie Fernsehen, Computerspielen oder der Konsum von sozialen Medien.

Die retrospektive Panelstruktur der Daten erlaubt es zu analysieren, wie sich die Schulschließungen auf Unterschiede in der Lernzeit zwischen leistungsschwächeren und -stärkeren Schulkindern auswirkten. Die Einteilung der Schüler*innen in leistungsschwächere bzw. -stärkere basiert darauf, ob ihre Schulnoten in Mathematik und Deutsch unter oder über dem Median ihrer jeweiligen Schulart liegen.

Um darüber hinaus zu untersuchen, inwieweit Eltern und Schulen den Unterrichtsausfall kompensierten, haben wir zusätzlich erfragt, inwieweit sich die Eltern an den Lernaktivitäten beteiligten und wie die Schulen ihre Lernangebote während der Schulschließungen organisierten.

Leistungsschwächere Schüler*innen ersetzten Lernzeit besonders stark durch Computerspiele
Wir finden, dass die Schulschließungen im Durchschnitt zu großen Lernzeitverlusten führten. Insgesamt halbierte sich die Zeit, die Schulkinder täglich mit schulischen Aktivitäten verbrachten, während der Schulschließungen von 7,4 auf 3,6 Stunden.

Dieser Rückgang an Lernzeit war für leistungsschwächere Schüler*innen deutlich größer als für leistungsstärkere Schüler*innen. Wie Abbildung 1 zeigt, unterschieden sich die Lernzeiten vor den Schulschließungen nicht wesentlich zwischen leistungsschwächeren und -stärkeren Schulkindern. Im Gegensatz dazu verbrachten während der Schulschließungen die Leistungsstärkeren jeden Tag eine halbe Stunde mehr mit schulbezogenen Aktivitäten als die Leistungsschwächeren (3,9 bzw. 3,4 Stunden). Während der Rückgang des tatsächlichen Schulbesuchs in beiden Gruppen ähnlich ausfiel (Kinder von Eltern in systemrelevanten Berufen konnten eine Notbetreuung in der Schule in Anspruch nehmen), lernten die leistungsschwächeren Schüler*innen zu Hause signifikant weniger als die leistungsstärkeren. Der größte Teil dieser Lücke lässt sich nicht durch beobachtbare Merkmale wie den sozioökonomischen Hintergrund oder die familiäre Situation erklären, was darauf hindeutet, dass sie tatsächlich mit der Leistungsdimension zusammenhängt.

Infografik, Aktivitäten von leistungsschwächeren und-stärkeren Schulkindern vor und während der Schulschließungen

 

Als Ersatz für die verkürzte Lernzeit verbrachten sowohl leistungsschwächere als auch leistungsstärkere Schulkinder kaum mehr Zeit mit anderen förderlichen Aktivitäten. Im Durchschnitt stieg die Beschäftigung mit Lesen, Musizieren, kreativem Gestalten und Bewegung nur von 2,9 auf 3,2 Stunden.

Stattdessen verbrachten leistungsschwächere Schüler*innen während der Schulschließung 6,3 Stunden pro Tag mit Aktivitäten wie Fernsehen, Computerspielen und sozialen und Online-Medien, die allgemein als nicht förderlich für die kindliche Entwicklung gelten. Das sind jeden Tag fast drei Stunden mehr als mit schulischen Aktivitäten. Im Vergleich dazu verbrachten leistungsstärkere Kinder 1,5 Stunden weniger mit solch weniger förderlichen Aktivitäten. Etwa die Hälfte dieses Unterschieds bestand bereits vor den Schulschließungen, aber auch die Zunahme der passiven Aktivitäten war bei leistungsschwächeren Kindern (+1,7 Stunden) deutlich stärker als bei leistungsstärkeren (+1,0 Stunden).

Zusammengenommen deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass die Corona-Pandemie die Bildungsungleichheit zwischen leistungsschwächeren und -stärkeren Schüler*innen deutlich verstärkt hat.

Lernausfall wurde durch Eltern und Schulen nicht aufgefangen

Der Unterschied in der Lernzeit zwischen leistungsschwächeren und -stärkeren Schulkindern während der Schulschließungen wurde durch das Engagement der Eltern nicht aufgefangen. Bereits vor den Schulschließungen verbrachten Eltern leistungsschwächerer Kinder im Vergleich zu Eltern leistungsstärkerer Kinder weniger Zeit damit, zusammen mit ihren Kindern zu lernen (0,4 bzw. 0,6 Stunden pro Tag). Eltern von Leistungsschwächeren erhöhten den Zeitaufwand weniger als Eltern von Leistungsstärkeren (+0,5 bzw. +0,6 Stunden), so dass die Schulschließungen auch die Ungleichheit im elterlichen Engagement verstärkten.

Auch die Aktivitäten der Schulen kompensierten die Unterschiede in der Lernzeit zwischen leistungsschwächeren und -stärkeren Schüler*innen nicht. Während der Schulschließungen führten Schulen und Lehrkräfte nur einen Bruchteil ihrer üblichen Lehrtätigkeit im Distanzunterricht durch. So hatten beispielsweise nur 29 Prozent der Kinder mehr als einmal pro Woche Unterricht für die ganze Klasse (z.B. per Videoanruf), und nur 17 Prozent hatten mehr als einmal pro Woche individuellen Kontakt mit ihrer Lehrkraft. Dieser Rückgang an schulischen Aktivitäten traf leistungsschwächere Schüler*innen wiederum besonders stark: Im Vergleich zu den leistungsstärkeren Kindern hatten sie eine um 13 Prozentpunkte geringere Wahrscheinlichkeit, mehr als einmal pro Woche an Online-Unterricht teilzunehmen, und eine um 10 Prozentpunkte geringere Wahrscheinlichkeit, individuellen Kontakt mit ihrer Lehrkraft zu haben.

Unsere Untersuchung, mit welchen Aktivitäten Schulkinder mit unterschiedlichen Leistungen ihre Zeit während der Schulschließungen verbrachten und inwiefern Eltern und Schulen die Kinder beim Lernen unterstützten, ergänzt andere aktuelle Studien zu den Auswirkungen der Schulschließungen auf Lernzeit und Lernergebnisse (vgl. Andrews et al. 2020, Bacher-Hicks et al. 2020, Chetty et al. 2020, Engzell et al. 2020, Maldonado und de Witte 2020). Unsere Ergebnisse tragen auch zu der stetig wachsenden Literatur zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf andere wirtschaftliche und soziale Dimensionen wie Arbeitsmarkt, Familie und Wohlbefinden bei (vgl. Alon et al. 2020, Chetty et al. 2020, Fetzer et al. 2020, Fuchs-Schündeln et al. 2020).

Politische Schlussfolgerung: Verbindliche Konzepte für Distanzunterricht besonders für leistungsschwächere Kinder

Die Bildungspolitik steht während der Corona-Pandemie vor großen Herausforderungen, doch für die betroffenen Schulkinder steht viel auf dem Spiel. Die politischen Entscheidungsträger*innen sollten alles daransetzen, angemessene Lernfortschritte aller Kinder und Jugendlichen sicherzustellen. Das impliziert eine Rückkehr in den Präsenzunterricht, wo immer dies epidemiologisch möglich ist. Wenn dies nicht möglich ist, sollte dringend Online-Unterricht eingeführt werden, um für alle Kinder Unterricht auch während der Schulschließungen sicherzustellen, statt sie wieder größtenteils allein zu lassen.

Konkret legen unsere Ergebnisse die Bedeutung universeller und verbindlicher Konzepte für Distanzunterricht bei Schulschließungen nahe, die sich besonders an leistungsschwächere Schüler*innen richten. Die bisherige Vorgehensweise, die Entscheidung über Distanzunterricht den einzelnen Schulen oder Lehrkräften zu überlassen, hat sich laut unseren Daten als weitgehend erfolglos erwiesen. Tatsächlich spricht sich eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung dafür aus, 1) Lehrkräfte anzuweisen, den täglichen Kontakt mit ihren Schüler*innen aufrechtzuerhalten, 2) alle Schulen zu verpflichten, während der Schulschließungen auf Online-Unterricht umzustellen, und 3) Online-Unterricht durch verpflichtende Lehrerfortbildungen sowie die Bereitstellung digitaler Geräte für bedürftige Schulkinder zu ermöglichen (Wößmann et al. 2020). Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass leistungsschwächere Schüler*innen besonders darunter leiden, wenn keine Unterstützung durch Lehrkräfte im Präsenzunterricht möglich ist. Sicherzustellen, dass auch diese Kinder zufriedenstellende Lernfortschritte machen können, wenn Schulen geschlossen werden müssen, wird einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung von zukünftiger Bildungsungleichheit leisten.

Dieser Beitrag ist eine deutsche Übersetzung des bereits auf VoxEU erschienen Artikels «COVID-19 school closures hit low-achieving students particularly hard».

Literatur

Alon, Titan, Matthias Doepke, Jane Olmstead-Rumsey, Michèle Tertilt (2020). The impact of the coronavirus pandemic on gender equality. VoxEU.org, 19 April.

Andrew, Alison, Sarah Cattan, Monica Costa Dias, Christine Farquharson, Lucy Kraftman, Sonya Krutikova, Angus Phimister, Almudena Sevilla (2020). Inequalities in Children’s Experiences of Home Learning during the COVID-19 Lockdown in England. IFS Working Paper 20/26. London: Institute for Fiscal Studies.

Bacher-Hicks, Andrew, Joshua Goodman, Christine Mulhern (2020). Inequality in Household Adaptation to Schooling Shocks: Covid-Induced Online Learning Engagement in Real Time. Journal of Public Economics, im Erscheinen.

Burgess, Simon, Hans Henrik Sievertsen (2020). Schools, skills, and learning: The impact of COVID-19 on education. VoxEU.org, 01 April.

Chetty, Raj, John N. Friedman, Nathaniel Hendren, Michael Stepner, the Opportunity Insights Team (2020). How Did COVID-19 and Stabilization Policies Affect Spending and Employment? A New Real-Time Economic Tracker Based on Private Sector Data. NBER Working Paper 27431. Cambridge, MA: National Bureau of Economic Research.

Chetty, Raj, John N. Friedman, Jonah E. Rockoff (2014). Measuring the Impacts of Teachers II: Teacher Value-Added and Student Outcomes in Adulthood. American Economic Review 104 (9): 2633-2679.

Cunha, Flavio, James J. Heckman, Lance Lochner, Dimitriy V. Masterov (2006). Interpreting the Evidence on Life Cycle Skill Formation. In Handbook of the Economics of Education, Vol. 1, herausgegeben von Eric A. Hanushek, Finis Welch. Amsterdam: North Holland: 697-812.

Engzell, Per, Arun Frey, Mark Verhagen (2020). Learning Inequality during the COVID-19 Pandemic. Mimeo, University of Oxford.

European Commission (2020). Educational Inequalities in Europe and Physical School Closures During COVID-19. Fairness Policy Brief Series 04/2020.

Fetzer, Thiemo, Lukas Hensel, Johannes Hermle, Christopher Roth (2020). Coronavirus Perceptions and Economic Anxiety. VoxEU.org, 21. März.

Fuchs-Schündeln, Nicola, Moritz Kuhn, Michèle Tertilt (2020). The short-run macro implications of school and childcare closures. VoxEU.org, 30 Mai.

Grewenig, Elisabeth, Philipp Lergetporer, Katharina Werner, Ludger Wößmann, Larissa Zierow (2020). COVID-19 and Educational Inequality: How School Closures Affect Low- and High-Achieving Students. CESifo Working Paper 8648. München: CESifo.

Hanushek, Eric A., Ludger Wößmann (2020). The Economic Impacts of Learning Losses. Paris: Organisation for Economic Co-operation and Development.

Maldonado, Elisa J., Kristof de Witte (2020). The Effect of School Closures on Standardized Student Test Outcomes. Discussion Paper Series DPS20.17. Leuven: Katholieke Universiteit (KU) Leuven.

Rivkin, Steven G., Eric A. Hanushek, John F. Kain (2005). Teachers, Schools, and Academic Achievement. Econometrica 73 (2): 417-458.

UNESCO (2020). Adverse Consequences of School Closures. https://en.unesco.org/covid19/educationresponse/consequences [aufgerufen am 15. September 2020].

Wößmann, Ludger (2020). Folgekosten ausbleibenden Lernens: Was wir über die Corona-bedingten Schulschließungen aus der Forschung lernen können. ifo Schnelldienst 73 (6): 38-44.

Wößmann, Ludger, Vera Freundl, Elisabeth Grewenig, Philipp Lergetporer, Katharina Werner, Larissa Zierow (2020). Bildung in der Corona-Krise: Wie haben die Schulkinder die Zeit der Schulschließungen verbracht, und welche Bildungsmaßnahmen befürworten die Deutschen? ifo Schnelldienst 73 (9): 25-39.

©KOF ETH Zürich, 21. Dez. 2020