Gastbeitrag

Streit-Kultur? Individualismus und persönlicher ökonomischer Erfolg

Die Individualismus-Debatte dreht sich um den Widerstreit zwischen persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Katharina Hartinger, Sven Resnjanskij, Jens Ruhose und Simon Wiederhold zeigen, dass die gesellschaftlichen Effekte individualistischer Kultur zwar ambivalent sind, sie zu höherem ökonomischen Erfolg für den Einzelnen führt.


Quelle:
Ökonomenstimme

Individualismus ist ein Wertesystem, das Freiheit und Eigenleistung betont. Die Individualismus-Debatte dreht sich um den Widerstreit zwischen persönlicher Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Während die gesellschaftlichen Effekte individualistischer Kultur ambivalent sind, führt sie zu höherem ökonomischen Erfolg für den Einzelnen.

Es wird viel gestritten zurzeit. Über Masken und Impfpflicht, über Umverteilung und Klimawandel. Immer im Zentrum: Das scheinbar unüberbrückbare Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und den Zielen der Gemeinschaft. Welcher Seite wir dabei den Vorzug geben, ist in Teilen auch kulturell bedingt. Individualismus nennt sich jene Kulturdimension, die den Einzelnen mit seinen Leistungen und seiner unantastbaren Unabhängigkeit in den Vordergrund stellt. In den USA – dem individualistischsten Land der Welt – bestimmt die Individualismus-Debatte seit Langem den Zeitgeist (vgl. Dionne 2012). Aber auch außerhalb des angelsächsischen Raums sind viele Länder individualistisch geprägt, Deutschland oder die Niederlande zum Beispiel. Andere Gesellschaften priorisieren dagegen tendenziell die Bedürfnisse der Gemeinschaft gegenüber denen der Einzelperson, China wäre hier ein Beispiel. Insgesamt gilt das Individualismus-Niveau einer Gesellschaft als die wichtigste Ursache interkultureller Unterschiede weltweit (Heine 2007).

Doch welche Konsequenzen hat Individualismus für Wirtschaft und Gesellschaft? In Bezug auf gesellschaftliche und aggregierte ökonomische Faktoren ist das bereits gut erforscht: Während sich individualistische Gesellschaften schwertun, was die Umverteilung von Ressourcen (Bazzi et al. 2020) oder die kollektive Bekämpfung der Corona-Pandemie (Bazzi et al. 2021) betrifft, haben sie beim Wirtschaftswachstum einen Vorteil. Denn sie belohnen Leistungen, die den Einzelnen aus der Masse herausstechen lassen – Kreativität, Unternehmertum und Innovationen zum Beispiel (Hofstede 2001). Durch die höhere Innovationskraft steigt dann auch das Wirtschaftswachstum (Gorodnichenko & Roland 2017). Kurzum, auf der gesellschaftlichen Ebene wirkt Individualismus mal positiv und mal negativ. In unserer Studie zoomen wir hingegen an die Einzelperson heran und beleuchten die Implikationen von Individualismus für den individuellen ökonomischen Lebensweg (siehe Hartinger, Resnjanskij, Ruhose und Wiederhold (2021) für eine genaue Darstellung des Forschungsprojekts). Denn es ist zunächst ja völlig unklar, ob sich Individualismus letztlich für den Einzelnen ökonomisch auszahlt.

Dabei interessieren uns vor allem Größen, die den Erfolg einer Person auf dem Arbeitsmarkt charakterisieren: kognitive Kompetenzen, Bildungsentscheidungen, aber natürlich auch das Einkommen. In unseren Analysen sehen wir, dass sich Individualismus in der Tat ökonomisch rentiert – und das tatsächlich in hoch- wie niedrig-individualistischen Ländern gleichermaßen. Individualistischere Personen investieren in ihrem charakteristischen Streben nach neuen Karriere-Herausforderungen und Selbstverwirklichung mehr in ihre Bildung, was sich dann auch in höheren Löhnen und niedrigerer Arbeitslosigkeit bemerkbar macht.

Dem Individualismus-Effekt auf die Spur kommen – positive Auswirkungen auf Kompetenzen und Arbeitsmarkterfolg

Es ist eine wahre Mammutaufgabe, den Effekt von Individualismus sauber von allen Störfaktoren (etwa den vielen anderen Kulturdimensionen oder Institutionen in einem Land) zu trennen. Was wir dafür benötigen? Menschen, die im selben Land wohnen, aber unterschiedlich individualistisch sind – in unseren Analysen kommt diese Variation konkret daher, dass Personen ursprünglich aus verschiedenen Ländern oder Sprachräumen kommen oder sich einfach in ihrer Persönlichkeit unterscheiden. Letztlich vergleichen wir dann zum Beispiel Migrant:innen erster Generation aus verschieden individualistischen Herkunftsländern, die im selben Zielland leben. Das machen wir in 22 Ländern, deren Bewohner:innen im Rahmen der PIAAC-Studie der OECD getestet wurden. PIAAC funktioniert wie der bekannte PISA-Test, aber mit Erwachsenen (Alter 16-65) und einem Fokus auf berufsrelevante Kompetenzen. Unsere Studie ist allerdings keine reine Migrationsstudie, da wir auch Einheimische vergleichen und sich unsere Ergebnisse verallgemeinern lassen – denn alle empirischen Ansätze führen zum selben Ergebnis.

Wie beeinflusst Individualismus denn nun die kognitiven Kompetenzen? Stark positiv, wie Abbildung 1 illustriert. Wir finden einen großen und präzise messbaren Effekt von Individualismus auf mathematische Kompetenzen. Für Migrant:innen der ersten Generation führt ein Anstieg in Individualismus um eine Standardabweichung (etwa der Unterschied zwischen Deutschland und Marokko) zu einem Anstieg in den Kompetenzen einer Person um 29 Prozent einer Standardabweichung. Ein enormer Effekt, der sich für Migrant:innen der zweiten Generation und Einheimische in verschiedenen Schätzungen bestätigt. Die Standardabweichung der gemessenen Kompetenzen ist die bewährte, aber etwas obskure „Währung“ der bildungsökonomischen Forschung. Die Größenordnung des Individualismus-Effekts zeigt sich allerdings auch dadurch, dass Individualismus einen größeren Einfluss auf kognitive Kompetenzen hat als jede andere bereits erforschte Kulturdimension (etwa kulturelle Zeit- oder Risikopräferenzen). Die monetären Auswirkungen auf den Arbeitsmarkterfolg sind intuitiver zu verstehen: Steigt Individualismus wieder um die übliche Standardabweichung, steigt der Lohn der Person im Durchschnitt um 8,4 Prozent – in Deutschland entspricht das in unseren Daten knapp 1,50 Euro pro Stunde. Gleichzeitig sinkt das Arbeitslosigkeitsrisiko signifikant.

Abbildung 1: Individualismus, kognitive Kompetenzen und Arbeitsmarktindikatoren 

Abbildung 1: Individualismus, kognitive Kompetenzen und Arbeitsmarktindikatoren

Anmerkungen: Die Abbildung zeigt den positiven Effekt von Individualismus auf die kognitiven Kompetenzen sowie auf verschiedene Arbeitsmarktindikatoren. Dargestellt sind die Ergebnisse des epidemiologischen Ansatzes auf Basis des Hofstede-Maßes für Migrant:innen der ersten Generation. Angegeben ist jeweils der Effekt einer Erhöhung des Individualismus-Wertes um eine Standardabweichung auf den jeweiligen Erfolgsindikator. Der Effekt von Individualismus auf die kognitiven Kompetenzen (basierend auf den gemessenen Mathekompetenzen in den PIAAC-Daten) und auf die Intensität abstrakter Tätigkeiten im Beruf ist in Prozent einer Standardabweichung angegeben. Die prozentuale Änderung des Arbeitslohns ist durch den Effekt auf den logarithmierten Lohn approximiert. Die Individualismus-Effekte auf das Risiko der Arbeitslosigkeit sowie auf die Wahrscheinlichkeit der Ausübung eines Forschungsberufes sind in Prozentpunkten ausgewiesen. Die Fehlerindikatoren zeigen +/- einen Standardfehler um den Regressionskoeffizienten an. Die hier gezeigten positiven Effekte von Individualismus lassen sich auch mit alternativen Individualismus-Maßen sowie für Migrant:innen der zweiten Generation und für Einheimische replizieren.

Quelle: Darstellung der Autor:innen auf Basis der Ergebnisse in den Tabellen 1 und 7 in Hartinger et al. (2021).

Warum diese großen Effekte?

Die starken positiven Effekte von Individualismus im Kontext von Bildung und Arbeitsmarkt mögen zunächst überraschen. Was macht er denn so anders, der Individualist an sich? Der vielleicht wichtigste Vertreter der Kulturforschung, der niederländische Psychologe Geert Hofstede, definiert individualistische Gesellschaften als Gesellschaften mit losen Bindungen zwischen den einzelnen Mitgliedern (Hofstede 2001). Diese Mitglieder streben dann nach Unabhängigkeit und Selbsterfüllung. Bedeutet Selbsterfüllung eine wenig ertragreiche Karriere als Backpackerin oder als Straßenkünstler, sind negative Effekte auf das Einkommen zu erwarten. Andererseits kann der Fokus auf Eigenleistung eine starke Motivation sein, in die persönlichen Kompetenzen zu investieren. Denn entweder gelten Kompetenzen selbst als Alleinstellungsmerkmal, oder sie dienen zumindest als Werkzeug zum Erreichen von Karrierezielen und beruflicher Selbstverwirklichung. Damit wird der Effekt von Individualismus auf den ökonomischen Erfolg zur empirischen Frage, bei der unsere Ergebnisse nahelegen, dass der positive Effekt stark überwiegt.

Über das Berufsleben hinweg – Individualismus und Lernverhalten

Darüber hinaus bezeichnet Hofstede (2001) Individualismus explizit als „Kultur des lebenslangen Lernens“. Tatsächlich gelingt es uns, das lebenslange Lernen individualistischer Personen als wichtigen Mechanismus für die positiven Kompetenzeffekte zu belegen – vom Universitätsabschluss bis zur Zeitungslektüre am Frühstückstisch. Individualismus wirkt also nicht nur bis zum letzten Schulzeugnis. Über das gesamte Arbeitsleben hinweg nehmen individualistischere Personen mehr Weiterbildungsangebote wahr und zeigen auch sonst die erwartete größere Lernbereitschaft.

Ins Bild passt dabei auch, dass Individualist:innen nach unseren Analysen eher in forschungsnahen, kreativen und mathematisch-analytischen Jobs anzutreffen sind. Dieses Ergebnis schlägt den Bogen zurück zu den breiten, gesamtgesellschaftlichen Individualismus-Studien: Wie Gorodnichenko und Roland (2017) für die USA zeigen, sind Innovationen ein wichtiger Kanal, über den Individualismus langfristiges Wirtschaftswachstum positiv beeinflusst.

Individualismus zahlt sich ökonomisch aus – doch es bleiben offene Fragen

Indem wir also den Effekt von Individualismus auf den individuellen ökonomischen Erfolg belegen, tragen wir gleichzeitig zu einem besseren Fundament der gesamtgesellschaftlich beobachteten Effekte bei. Wir alle haben schließlich einen kulturellen Hintergrund – die Implikationen dieser Werkzeugkiste für ökonomische Entscheidungen müssen wir verstehen, um als Gesellschaft Bildungs- und Arbeitsmarktinstitutionen bestmöglich auf kulturell-persönliche Bedürfnisse abstimmen zu können. In der hier besprochenen Studie beschränken wir uns auf den hochrelevanten aber eben doch klar limitierten Kontext der Bildung und des Arbeitsmarktes. Andere wichtige Bereiche wie die soziale und politische Partizipation oder auch die Lebenszufriedenheit müssen wir dabei außen vor lassen. Dort wären durchaus auch negative Effekte von Individualismus zu erwarten, die aber erst noch empirisch belegt werden müssen. Auch wenn die Effekte auf den persönlichen ökonomischen Erfolg also positiv sind, lässt sich über Individualismus vortrefflich weiter forschen. Und streiten.

Literatur

Bazzi, S., M. Fiszbein und M. Gebresilasse (2020), “Frontier Culture: The Roots and Persistence of ‘Rugged Individualism’ in the United States”, Econometrica 88(6), 2329-2368.

Bazzi, S., M. Fiszbein und M. Gebresilasse (2021), “’Rugged Individualism’ and Collective (In)Action during the COVID-19 Pandemic”, Journal of Public Economics 195, 104357.

Dionne, E. J. (2012), Our divided political heart. The battle for the American idea in an age of discontent, Bloomsbury, New York, Berlin.

Gorodnichenko, Y. und G. Roland (2017), “Culture, Institutions, and the Wealth of Nations”, Review of Economics and Statistics 99 (3), 402–416.

Hartinger, K., S. Resnjanskij, J. Ruhose und S. Wiederhold (2021), “Individualism, Human Capital Formation, and Labor Market Success”, CESifo Working Paper Nr. 9391, Oktober.

Heine, S. (2007), Cultural Psychology, Norton, New York.

Hofstede, G. (2001), Culture's Consequences: Comparing Values, Behaviors, Institutions and Organizations Across Nations, SAGE Publications, Thousand Oaks.

©KOF ETH Zürich, 23. Dez. 2021