Projekt

Die EU-Integration der Türkei am Scheideweg

Auftraggeber: Bertelsmann Stiftung
Projektlaufzeit: Dezember 2015 - April 2016
Bearbeitender Bereich:
Projektteam: Dr. Erdal Yalcin, Dr. Rahel Aichele, Prof. Gabriel Felbermayr, Ph.D.

Fragestellung und Ziele

Im Mai 2015 hat die türkische Regierung gemeinsam mit Vertretern der Europäischen Union (EU) eine Absichtserklärung verkündet, nach der die bestehende Zollunion (ZU) zwischen den zwei Parteien modernisiert und vertieft werden soll. Dieser Wunsch, die wirtschaftspolitischen Beziehungen der EU und der Türkei losgelöst von dem stagnierenden EU-Acquis zu vertiefen, ist zunächst überraschend, stellt aber einen möglichen Schritt dar, um einen drohenden Bruch in den wirtschaftlichen Handelsbeziehungen zwischen den zwei Regionen zu verhindern. Die EU ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Türkei, und umgekehrt ist die Türkei der sechstgrößte Handelspartner der EU. Insbesondere mit Deutschland pflegt die Türkei nachhaltige Wirtschaftsbeziehungen. Während 9% des türkischen Exports an Deutschland gehen, beläuft sich der Import aus Deutschland auf rund 10% aller türkischen Einfuhren.

Dieser wirtschaftliche Integrationserfolg ist jedoch seit geraumer Zeit in Gefahr, da institutionelle Schwächen in der Ausgestaltung der europäischen Zollunion im Fall der Türkei mit zunehmend negativen Folgen für die türkische Industrie einhergehen. Die Konzentration der EU-Kommission auf den Abschluss neuer regionaler Handelsabkommen, z.B. mit den USA (Transatlantic Trade and Investment Partnership, TTIP) oder mit Japan bzw. Kanada, hat institutionelle Schwachstellen der bisher erfolgreichen Zollunion zwischen der EU und der Türkei zu Tage gefördert.

Ziel dieser Studie ist es, zunächst die institutionellen Rahmenbedingungen zwischen der EU und der Türkei unter Berücksichtigung der neuen europäischen Handelspolitik darzustellen und die sich immer stärker ergebenden institutionellen Inkompatibilitäten herauszuarbeiten. Darauf aufbauend werden mögliche wirtschaftliche Effekte quantifiziert, mit denen in der EU und der Türkei gerechnet werden darf, wenn es zu keiner Anpassung in den bilateralen Wirtschaftsverträgen (EU-Türkei) kommt. Hierbei werden nicht nur mögliche mittelfristige Effekte eines Transatlantischen Handels- und Investitionsabkommens analysiert, sondern auch weitere aktuell von der EU verhandelte Handelsabkommen mit Drittstaaten, die eine nachhaltige Wirkung auf die türkische Wirtschaft und die europäisch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen haben können, berücksichtigt.

Die vorliegende Studie quantifiziert die positiven ökonomischen Aspekte einer tieferen wirtschaftlichen Integration der Türkei in der EU unter Berücksichtigung der internationalen Regionalisierung. Dabei wird die mit der tieferen Integration des Landes in die EU einhergehende Abtretung politischer Souveränität an die europäischen Institutionen berücksichtigt. Aus dem ökonomisch-institutionellen Zusammenspiel werden normative wirtschaftspolitische Integrationsziele für die EU-Türkei-Beziehung abgeleitet.

Methodische Vorgehensweise

Mit Hilfe eines 140 Länder umfassenden, multi-sektoren Handelsmodells, das zudem nationale und internationale Wertschöpfungsketten berücksichtigt, werden die Effekte von verschiedenen handelspolitischen Schocks (z.B. einfache, tiefe Freihandelsabkommen, Zollunion) im allgemeinen Gleichgewicht simuliert. Die Absenkung der (nicht-tarifären) Handelskosten, die von einem Freihandelsabkommen erwartet werden kann, wird dabei mit Hilfe der Gravitätsgleichung und sektoraler, bilateraler Handelsdaten geschätzt.

Datenquellen

COMTrade, CEPII, GTAP, Bundesbank-FDI-Daten.

Ergebnisse

Die Studie zeigt, dass die Türkei ohne eine modernisierte Version des vorliegenden EU-Türkei Zollabkommens mit deutlichen internationalen Handelsrückgängen rechnen muss. Insgesamt fallen die möglichen Verluste von 0,01 Prozent des BIP für die Türkei vergleichsweise gering aus. Doch einzelne türkische Exportfelder müssten mit erheblichen Einbußen rechnen: Die Automobilbranche sowie die Maschinenbausparte müssten einen Rückgang des Handelsvolumens um 10 Prozent bzw. 4 Prozent befürchten. Werden weitere langfristige Anpassungen der Handelsabkommen mit Drittstaaten berücksichtigt, so sind Wohlfahrtsverluste von über 1,5 Prozent des BIP möglich.

Politikoptionen: Vertiefung oder Rückführung der Zollunion

Eine mögliche Politikoption in einer durch zunehmend regionale Handelsabkommen gekennzeichneten Welt ist die Auflösung der gegenseitigen Zollunion. Doch dies wäre für Ankaras Wirtschaft ein Rückschritt, wie die Studie zeigt. Das Ungleichgewicht der Handelsbeziehungen wäre damit zwar behoben, aber ohne Zollunion müsste sich die türkische Wirtschaft auch auf ein Ende des bevorzugten Zugangs zum europäischen Markt mit teils gravierenden Auswirkungen einstellen: Eine Auflösung der gegenwärtigen EU-türkischen Zollunion würde zu einem Rückgang des türkischen BIP um 0,81 Prozent führen. Kommt dann noch der Abschluss der neuen EU-Handelsabkommen hinzu, sinkt das türkische BIP weiter um 0,96 Prozent. Auch die EU müsste in einem solchen Fall mit Verlusten rechnen.

Ein möglicher Ausweg, dendie Studie aufzeigt, ist in der Vertiefung des bestehenden Abkommens zu sehen: Eine Erweiterung des gegenwärtigen Abkommens um die Bereiche Agrarwirtschaft und Dienstleistungen könnte nicht nur die negativen Effekte der Asymmetrie für die Türkei aufwiegen, sondern sogar zu Gewinnen auf beiden Seiten führen. Die Erweiterung der Zollunion könnte zu einem Anstieg des türkischen BIP um 1,84 Prozent führen. Agrarwirtschaftliche Exporte in die EU könnten um 95Prozent steigen und Exporte von Dienstleistungen sogar um 430 Prozent.

Kommen nun noch die neuen Handelsverträge der EU hinzu, steigt das Einkommensniveau in der Türkei weiter. Grund dafür ist die dann erhöhte Nachfrage nach Dienstleistungen in der EU. Eine Erweiterung der Zollunion plus Abschluss der derzeitig geplanten Abkommen könnte der Türkei einen BIP-Zuwachs von 1,96 Prozent bringen. Das Pro-Kopf-Einkommen würde um fast 200 USD steigen. Schließt Ankara in Zukunft selbst noch Handelsabkommen mit den neuen Partnern der EU ab, erhöht sich der BIP-Zuwachs weiter auf 2,5 Prozent, was einem nominalen Anstieg von 18 Milliarden USD entspräche.

Die Einbindung der türkischen Agrar- und Dienstleistungssektoren in die europäische Zollunion bietet auch für die EU-Staaten wirtschaftliche Chancen. Insofern ergibt sich für die türkische Regierung eine Verhandlungsmasse, das asymmetrische Handelsabkommen mit der EU zu korrigieren. Konkret sollte das Abkommen formal im Zusammenhang mit Freihandelsabkommen zwischen der EU und Drittstaaten erweitert werden, so dass ausgehandelte Zollerleichterungen für europäische Firmen in Drittstaaten in Zukunft auch für türkische Unternehmen mitberücksichtigt werden können.

Publikation

 

Monographie (Autorenschaft)
Erdal Yalcin, Rahel Aichele, Gabriel Felbermayr
Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 2016

Information | PDF Download

Yalcin, Erdal / Aichele, Rahel / Felbermayr, Gabriel
Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 2016

Information | PDF Download

Presseecho

Gastbeitrag — 18. August 2016

Presseartikel von Erdal Yalcin, Die Zeit, 18.08.2016, S. 29.