Projekt

Handelseffekte von Grenzkontrollen

Auftraggeber: Teile dieser Analyse wurden im Rahmen einer Kurzstudie im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie angefertigt
Projektlaufzeit: Februar 2016
Bearbeitender Bereich:
Projektteam: Prof. Gabriel Felbermayr, Ph.D., Dr. Jasmin Gröschl, Thomas Steinwachs

Fragestellung und Ziele

Das am 26. März 1995 in Kraft gesetzte Schengener Abkommen hat einen Europäischen Binnenraum der Personenfreizügigkeit geschaffen und damit ein beispielloses kontinentales Integrationsziel erreicht. Das Schengener Abkommen gilt als perfekte Ergänzung zum freien Kapital- und Warenverkehr, der bereits durch frühere Verträge ermöglicht worden war. Der Schengen Raum umfasst heute etwa 4,2 Millionen Quadratkilometer Fläche und mehr als 400 Millionen Bürger, die sich innerhalb der 26 Mitgliedstaaten ohne Reise- oder Arbeitsvisum frei bewegen können.

Die mit den Terroranschlägen in Paris am 13. November 2015 erneut in den Fokus gerückte Bedrohung durch globalen Terrorismus sowie ein starker Anstieg der Flüchtlingszahlen in Europa seit Sommer 2015 haben jüngst im Schengen-Raum eine Grundsatzdebatte darüber hervorgerufen, inwieweit offene Binnengrenzen politisch und ökonomisch haltbar sind. Inzwischen haben insbesondere die Herausforderungen des Flüchtlingszustroms zu einer temporären Wiedereinführung von Grenzkontrollen in den Schengen-Staaten Deutschland, Österreich, Schweden, Frankreich, Norwegen und Dänemark sowie kurzzeitig in Malta, Ungarn und Slowenien geführt. Die Entscheidung dieser Länder für eine Notwendigkeit von Grenzkontrollen stellt jüngst das Schengener Abkommen in Frage.

Diese Studie addressiert folgende drei Fragestellungen:

  1. Wie stark wird die Reisezeit zwischen gegebenen Orten durch Grenzkontrollen beeinträchtigt?
  2. Beeinflusst die Abschaffung der Grenzkontrollen durch das Schengener Abkommen den grenzüberschreitenden Handel in Waren und Dienstleistungen innerhalb Europas und wenn ja, in welchem Ausmaß?
  3. Welche Wohlfahrtseffekte sind für Deutschland aufgrund einer Veränderung internationaler Handelsvolumina in Folge einer Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum zu erwarten?

Methodische Vorgehensweise

Wir schätzen die Handelseffekte des Schengener Abkommens anhand eines Gravitationsmodells aufgrund aggregierter und sektoraler bilateraler Handelsdaten aller Länder im geographischen Europa. Für jedes Länderpaar zählen wir die Anzahl der Übertritte von Schengen-Grenzen, die beim Transport von Gütern auf dem Landweg entlang der jeweils kürzesten Transportroute anfallen. Die Berücksichtigung dieser räumlichen Struktur der Handelsbeziehungen fehlt in anderen Abschätzungen des Schengen-Effektes. Wir berücksichtigen zudem weitere Integrationseffekte der Europäischen Union (Zollunion und Binnenmarkt), der gemeinsamen Währung, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EEA) und weiterer regionaler Handelsabkommen sowie die makroökonomischen Determinanten des bilateralen Handels. Zur Analyse der Wohlfahrtswirkungen simulieren wir auf Basis der geschätzten Handelseffekte vier verschiedene Szenarien, die sich dahingehend unterscheiden, an welchen Grenzen konkret Grenzkontrollen eingeführt werden.

Datenquellen

Amtliche Handelsstatistiken, BACI von UN COMTRADE, World-Input-Output Database, World Development Indicators der Weltbank, RTA der Welthandelsorganisation
Geographische Daten zu Reisedistanzen und -zeiten

Ergebnisse

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Mit Hilfe von Daten zu Reisezeiten aus dem Bing Map Service zeigen wir, dass die Überwindung von Ländergrenzen innerhalb des Schengen-Raumes um durchschnittlich etwa 20 Minuten schneller gelingt als zwischen zwei Ländern, von denen mindestens eines nicht dem Schengen-Raum angehört. Daten aus Nordamerika legen zudem nahe, dass ein Grenzübertritt von Kanada (Mexiko) nach den USA mit einer durchschnittlichen Wartezeit von 18 Minuten (38 Minuten) verbunden ist.

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Wir finden, dass eine Wiedereinführung der Grenzkontrollen im Schengen-Raum die bilateralen Warenexporte je Grenzübertritt um circa 2,7% reduzieren würde. Dies entspricht einem Zolläquivalent von 0,54%. Per Konstruktion gilt das ebenso für Warenimporte. Die bilateralen Dienstleistungsexporte je Grenzübertritt würden um circa 4,2% reduziert. Dies entspricht einem Zolläquivalent von 0,82%.

Die sektorale Analyse ergibt heterogene Effekte im Warenhandel. Substanzielle Effekte einer Wiederaufnahme der Grenzkontrollen sind vor allem bei verderblichen Gütern und bei industriellen Zwischengütern nachzuweisen. Bestimmte Dienstleistungssektoren sind nach unserer Analyse ebenfalls durch das Schengener Abkommen betroffen.

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Die Ergebnisse der Wohlfahrtsanalyse lauten wie folgt:

i. Szenario 1: Wiedereinführung von Grenzkontrollen an allen Schengen-Grenzen; der Interkontinentalhandel Deutschlands mit dem Rest der Welt läuft im Mittel über eine Schengen-Grenze: Nimmt man die Veränderung im Waren- und im Dienstleistungshandel zusammen, beträgt der deutsche Gesamthandelsvolumeneffekt (d.h. Warenexporte, Warenimporte sowie Dienstleistungsexporte und Dienstleistungsimport zusammengenommen) -3,77% (-98,6 Mrd. Euro). Das reale deutsche BIP reduziert sich um zwischen 6,01 Mrd. Euro und 14,83 Mrd. Euro pro Jahr im Vergleich zum Status quo.

ii. Szenario 2: Wiedereinführung von Grenzkontrollen an allen Schengen-Grenzen; der deutsche Interkontinentalhandel mit dem Rest der Welt ist nicht betroffen: Nimmt man die Veränderung im Waren- und im Dienstleistungshandel zusammen, so beträgt der deutsche Gesamthandelsvolumeneffekt -2,63% (-68,7 Mrd. Euro). Das reale deutsche BIP reduziert sich um zwischen 4,37 Mrd. Euro und 10,79 Mrd. Euro pro Jahr im Vergleich zum Status quo.

iii. Szenario 3: Wiedereinführung von Grenzkontrollen an allen Schengen-Grenzen, die an den Flüchtlingsrouten über den Balkan oder Italien liegen und Deutschland wie auch Österreich umfassen: Nimmt man die Veränderung im Waren- und im Dienstleistungshandel zusammen, so beträgt der deutsche Gesamthandelsvolumeneffekt ohne Berücksichtigung des deutschen Interkontinentalhandels -0,84% (-21,9 Mrd. Euro). Das reale deutsche BIP reduziert sich um zwischen 1,36 Mrd. Euro und 3,36 Mrd. Euro pro Jahr im Vergleich zum Status-Quo.

Unterstellen wir, dass der Interkontinentalhandel Deutschlands durch eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen auf der Italien- und Balkanroute anteilig betroffen wäre, so beträgt der deutsche Gesamthandelsvolumeneffekt -1,14% (-29,8 Mrd. Euro) und das reale Bruttoinlandsprodukt liegt jährlich um zwischen 1,9 Mrd. Euro und 4,6 Mrd. Euro niedriger.

iv. Szenario 4: Wiedereinführung von Grenzkontrollen nur zwischen Deutschland und Österreich: Nimmt man die Veränderung im Waren- und im Dienstleistungshandel zusammen, so beträgt der deutsche Gesamthandelsvolumeneffekt ohne Berücksichtigung des deutschen Interkontinentalhandels -0,48% (-12,5 Mrd. Euro). Das reale deutsche BIP reduziert sich um zwischen 770 Mio. Euro und 1,9 Mrd. Euro pro Jahr im Vergleich zum Status quo.

Eine Approximation der Betroffenheit des Interkontinentalhandels Deutschlands durch die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ergibt einen Gesamthandelsvolumeneffekt von -0,65% (-17 Mrd. Euro). Das reale Bruttoinlandsprodukt liegt dann jährlich um zwischen 1,05 Mrd. Euro und 2,6 Mrd. Euro niedriger.

Ähnliche Analysen wurden für Bayern, Österreich und die Europäische Union als Ganzes durchgeführt. Detaillierte Ergebnisse können dem Projektendbericht entnommen werden.

Publikationen

Working Paper
Gabriel Felbermayr, Jasmin Katrin Gröschl, Thomas Steinwachs
2017
ERIA Discussion Paper 2016-36

Monographie (Autorenschaft)
Gabriel Felbermayr, Jasmin Katrin Gröschl, Thomas Steinwachs
ifo Institut, München, 2016
ifo Forschungsberichte / 73

Aufsatz in Zeitschrift
Gabriel Felbermayr, Jasmin Katrin Gröschl, Thomas Steinwachs
ifo Institut, München, 2016
ifo Schnelldienst, 2016, 69, Nr. 05, 18-27