Aufsatz in Zeitschrift

Ungleichheit unter der Lupe – neue politische Antworten auf ein bekanntes Thema

Judith Niehues, Maximilian Stockhausen, Andreas Peichl, Charlotte Bartels, Mario Bossler, Bernd Fitzenberger, Arnim Seidlitz, Moritz Kuhn, Till Baldenius, Sebastian Kohl, Moritz Schularick, Rolf Kleimann
ifo Institut, München, 2020

ifo Schnelldienst, 2020, 73, Nr. 02, 03-26

Judith Niehues und Maximilian Stockhausen, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln, weisen darauf hin, dass in der Wahrnehmung der Bevölkerungsmehrheit die Ungleichheit in Einkommen und Vermögen seit Jahren steigt. Ein Abgleich mit den verfügbaren Daten zeige jedoch, dass die Daten weder ein eindeutiges Bild zeichnen, noch in wesentlichen Befunden zu den Vorstellungen der Bevölkerung passen. Unterschiedliche Datensätze führen teilweise zu unterschiedlichen Ungleichheitstrends. Eine robuste Datengrundlage sei aber für eine evidenzbasierte Politikberatung unablässig.

Andreas Peichl, ifo Institut, sieht trotz einem leichten Anstieg des Gini-Koeffizienten in den letzten Jahren keine strukturelle Verschiebung von arm zu reich. Der Anstieg der Ungleichheit liege vielmehr an der Veränderung der Befragungsdaten, die der Berechnung zugrunde liegen. Mit der Flüchtlingswelle und der Einwanderung sei eine ganze Gruppe mit niedrigem oder keinem Einkommen hinzugekommen. Die Folge sei, dass die Ungleichheit insgesamt ansteige. Dies bedeute jedoch nicht, dass es einer Person, die vorher in Deutschland lebe, schlechter gehe.

Charlotte Bartels, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), geht davon aus, dass die Polarisierung der Markteinkommen in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten drastisch gestiegen ist, da die Kapiteleinkommen stärker gewachsen sind als die Lohneinkommen. Zwar verteile der deutsche Staat mit seinem progressiven Einkommensteuersystem und den Sozialleistungen stark um und reduziere damit die Ungleichheit. In einer sozialen Marktwirtschaft sollte es aber vor allem interessieren, welche Einkommensverteilung der Marktmechanismus generiere.

Mario Bossler, Bernd Fitzenberger, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Nürnberg, und Arnim Seidlitz, Humboldt-Universität zu Berlin, zeigen, dass die Lohnungleichheit unter Vollzeitbeschäftigten in Westdeutschland zwischen 1990 und 2010 stark angestiegen ist. Ein Grund dafür sei die zunehmen-de Heterogenität der Erwerbsverläufe. Seit 2011 habe die Lohnungleichheit nicht mehr weiter zugenommen. Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns im Jahr 2015 sei die Lohnungleichheit am unteren Ende der Lohnverteilung zurückgegangen.

Moritz Kuhn, Universität Bonn, stellt in der Diskussion über Vermögensunterschiede den Häusermarkt und die Verteilung des Immobilienvermögens in den Mittelpunkt seiner Analyse und diskutiert die Bedeutung von Veränderungen der Häuserpreise für die Vermögensungleichheit. Nach seinem Ergebnis haben sich die unteren Vermögen nach einem Anstieg der Hauspreise stärker erhöht als die Vermögen der reichsten 10%, d.h., die Vermögensungleichheit bei steigenden Hauspreisen sinkt.

Till Baldenius, Humboldt-Universität zu Berlin, Sebastian Kohl, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, und Moritz Schularick, Universität Bonn, argumentieren dagegen, dass der Immobilienpreisboom die Vermögen der Hälfte der Bevölkerung gar nicht erreicht: Denn zu den großen Immobiliengewinnern zählten Haushalte, die über Immobilienvermögen verfügen und das sei im „Mieterland Deutschland“ noch nicht einmal jeder zweite Haushalt. Zudem träfen Mietsteigerungen insbesondere Mieter in ärmeren Stadtvierteln, die einen immer größeren Einkommensanteil für Wohnausgaben ausgeben müssten.

Rolf Kleimann, Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung, Tübingen, findet, dass die üblichen Maße zur Bestimmung von sozialer Ungleichheit für die Politik nicht handlungsleitend sein können. Unterschiedliche Messkonzepte zur Ungleichheit führten zu unterschiedlichen Ergebnissen und seien wenig brauchbar. Prekäre Lagen hätten immer konkrete Dimensionen und verlangten konkrete Hilfe.

Schlagwörter: Soziale Ungleichheit, Soziale Gerechtigkeit, Einkommensverteilung, Vermögensverteilung, Verteilungspolitik, Verteilungsgerechtigkeit, Deutschland, Europa
JEL Klassifikation: I320, D310

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