Gastbeitrag

Die WTO unter Beschuss

Martin Braml und Lisandra Flach über die Probleme und Zukunft der WTO.


Quelle:
Frankfurter Allgemeine Zeitung

Schuld an der Schwäche der Welthandelsorganisation haben nicht zuletzt die Europäer. Dabei läge der Erhalt auch in ihrem Interesse.

Zur Hochzeit des Multilateralismus nach dem Ende des Kalten Kriegs verständigten sich 123 Länder, angeführt von den Vereinigten Staaten, darauf, Freihandel global zu etablieren. Dazu gründeten sie 1995 die Welthandelsorganisation (WTO). Dies geschah nach dem erfolgreichen Abschluss der sogenannten "Uruguay-Runde", während deren weitreichende Zollsenkungen, aber auch Abkommen etwa zum Schutz geistigen Eigentums vereinbart wurden. Ursprünglich eine Erfindung des Westens, wurde die WTO-Mitgliedschaft schnell für weitere Länder attraktiv: Die Volksrepublik China trat 2001 bei, Russland folgte 2012. Heute gehören ihr 164 Länder an, die für 98 Prozent des globalen Handels stehen. Zu ihrem 25. Geburtstag zeigt sich die WTO allerdings in schlechter Verfassung.

Seitdem ihr Berufungsgericht Ende 2019 die Arbeit eingestellt hat, kann sie ihren eigentlichen Zweck - die Einhaltung der weltweiten Handelsregeln sicherzustellen - nicht mehr erfüllen. Die Vereinigten Staaten halten derzeit wenig von regelbasiertem Freihandel, WTO-Generaldirektor Roberto Azevedo trat im Mai überraschend zurück, und Chinas Handelspraktiken scheinen teilweise unvereinbar mit denen westlicher Marktwirtschaften. Wie ist es zu dieser verfahrenen Situation gekommen? Was bedeutet die Wahl des neuen WTO-Generaldirektors? Welche Möglichkeiten gibt es, die Organisation zu reformieren?

Keine multilaterale Handelsliberalisierung mehr

Seit Gründung der WTO war keine Runde multilateraler Handelsliberalisierung mehr erfolgreich. Die 2001 initiierte Doha-Runde scheiterte krachend. Dies hat vor allem zwei Ursachen: Erstens sind die Zölle der Industrieländer ohnehin schon sehr niedrig, während die der Schwellen- und Entwicklungsländer noch relativ hoch sind. Die Industrieländer können also ärmeren Staaten kaum noch Zollsenkungen anbieten, damit diese im Gegenzug ihre Zölle reduzieren. Ursprünglich war diese Zollasymmetrie zwischen den Industriestaaten und den Schwellenländern als Entgegenkommen der Industrieländer gedacht, um den globalen Süden zur Teilnahme an der WTO zu bewegen. Heute macht sie neue Verhandlungsergebnisse unmöglich. Geschützt hinter hohen Zollmauern, wuchsen in der Zwischenzeit manche dieser Länder, etwa China oder Indien, zu echten Wirtschaftsgiganten heran. Deren Unternehmen machen denen des Westens zunehmend Konkurrenz, ohne dabei auf ihren Heimatmärkten zu starken Wettbewerb fürchten zu müssen.

Zweitens weigert sich insbesondere die Europäische Union partout, ihren Agrarmarkt zu öffnen. Er ist die letzte große Domäne des europäischen Protektionismus: Dort gibt es noch Zölle von mehr als 50 Prozent, die geeignet sind, den Handel ganz zu unterbinden. Für viele Produkte gelten auch strikte Begrenzungen der Einfuhrmengen. Zusätzlich erhalten Landwirte enorme Subventionen, die immerhin 37 Prozent des gesamten Budgets der EU ausmachen. Dies frustriert vor allem die armen Länder Afrikas und Südamerikas, die gerne den gleichen Zugang zu den europäischen Agrarmärkten hätten, wie sie ihn den Europäern auf ihren Industriegütermärkten anbieten. Aber auch die Vereinigten Staaten dringen auf besseren Marktzugang.

Seit 200 Jahren ist die Handelstheorie von David Ricardo bekannt. Der Ökonom hat gezeigt, dass auch der Handel zwischen unterschiedlich wettbewerbsfähigen Volkswirtschaften für beide Seiten vorteilhaft ist. Dies liegt daran, dass es für jede Volkswirtschaft eine Nische gibt, in der sie relativ betrachtet einen Kostenvorteil aufweist. Für uns bedeutet das: Wir profitieren nicht nur davon, deutsche Autos in die Welt zu exportieren. Wir profitierten auch davon, Weiderind aus Argentinien zu importieren (worauf aktuell ein Zoll von 68 Prozent anfällt). Jeder stellt also das her, was er, verglichen mit anderen Tätigkeiten, am besten kann. Die Abschottung der Agrarmärkte mag politisch gewollt sein. Nur sollten die Konsequenzen bedacht werden: Freihandel wird nur so lange Akzeptanz erfahren, wie er keine Einbahnstraße darstellt.

Ende der Gerichtsbarkeit

Bei Handelsstreitigkeiten kann ein Mitgliedstaat ein WTO-Gericht anrufen. Sollte eine Partei mit dem Urteil nicht einverstanden sein, entscheidet ein Berufungsgericht. Dieses besteht eigentlich aus sieben Mitgliedern, drei sind für die Beschlussfähigkeit notwendig. Aufgrund der Weigerung der Vereinigten Staaten, frei werdende Richterposten nachzubesetzen, gibt es seit Dezember de facto kein Berufungsgericht mehr. Erstinstanzliche Urteilssprüche verkommen damit zum stumpfen Schwert, weil der Berufungsweg nicht mehr gangbar ist.

Dieser Frontalangriff auf die WTO ist nicht nur der Regierung von Präsident Donald Trump anzulasten, schon unter seinem Vorgänger Barack Obama wurde unter anderem mit der Ablehnung der Rechtsfortentwicklung in der WTO begonnen. Washington bleibt bis heute konkrete Reformvorschläge schuldig. Die Funktionsfähigkeit des multilateralen Handelssystems ist damit stark eingeschränkt. Schon jetzt benötigen Handelsstreitigkeiten zu viel Zeit, so dass Urteile zum Zeitpunkt des Spruchs häufig kaum noch praktische Bedeutung haben.

Neben dem Fingerzeig auf die Vereinigten Staaten lohnt es sich aber, auch vor der eigenen Haustüre zu kehren. Erst im vergangenen Jahr hat die EU einen WTO-Streit über ihre Subventionen an Airbus verloren. Sie sind nach dem Richterspruch unzulässig mit der Folge, dass die Vereinigten Staaten ihrerseits europäische Waren im Wert von 6,7 Milliarden Euro mit Ausgleichszöllen belegen dürfen. Betroffen sind davon unter anderem deutsche Werkzeugbauer. Dennoch weigern sich die EU-Airbus-Staaten, ihre Subventionspraktiken WTO-rechtskompatibel umzugestalten oder sie ganz abzuschaffen. Die Amerikaner klagten in der Vergangenheit auch erfolgreich gegen das Verbot der EU, hormonbehandeltes Rindfleisch zuzulassen. Die WTO stellte dazu fest, dass jedweder wissenschaftliche Nachweis über eine mögliche Gesundheitsgefährdung fehlt und das Verbot unzulässigen Protektionismus darstellt. Dennoch weigert sich die EU, das Urteil umzusetzen.

Sicherlich mag der Richterspruch mehrheitlich dem Willen der EU-Bürger entsprechen. Es ist nicht einfach, einen solchen Konflikt aufzulösen, wenn demokratische Willensbildungsprozesse und multilaterale Regeln einander entgegenstehen. Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik bezeichnete dies treffend als das "Globalisierungs-Trilemma". Trotzdem muss klar sein, dass auch die EU dazu beiträgt, die Welthandelsorganisation zu delegitimieren. Das sorgt für Frustration bei den Handelspartnern.

Generaldirektorenwahl: Friedensstifter gesucht

Acht Kandidaten sind von den Mitgliedstaaten bis zum Ablauf der Meldefrist am 7. Juli für das Amt des nächsten Generaldirektors der WTO nominiert worden. Die überraschendste Tatsache dabei ist, dass es keinen Kandidaten aus den Vereinigten Staaten, China, der EU, Indien oder Japan gibt. Nominierungen kommen aus Ägypten, Moldau, Mexiko, Südkorea, Saudi-Arabien, Großbritannien, Nigeria und Kenia. Unter den Kandidaten befinden sich zwei hochqualifizierte afrikanische Bewerberinnen: die kenianische Handelsexpertin Amina Mohamed, die 2015 die WTO-Ministerkonferenz leitete, und die ehemalige nigerianische Finanzministerin Ngozi Okonjo-Iweala. Auch Jesús Seade Kuri aus Mexiko wird aufgrund seiner Erfahrung als Vizegeneralsekretär der WTO in den neunziger Jahren und seiner engen Beziehung zu Washington als starker Kandidat gehandelt. Zudem hat er gerade den neuen nordamerikanischen Freihandelsvertrag mit ausgehandelt.

Angesichts der aktuellen Spannungen und der Tatsache, dass die Ernennung eines Generaldirektors einstimmig erfolgen muss, wäre es schon ein großer Erfolg, wenn die Neubesetzung überhaupt gelingt. Der Generaldirektor kann aber nur Reformen durchführen, wenn die Mitglieder bereit sind, diese mitzutragen. Dem Brasilianer Azevedo wird nachgesagt, dass er gerade aus Frust über die Reformunfähigkeit der WTO zurückgetreten ist. Unterdessen drohte der amerikanische Handelsvertreter Robert Lighthizer schon mit einem Veto gegen alle Kandidaten. Wenn die Vereinigten Staaten einen weiteren Stillstand in der WTO erzeugen, könnte sich die Wahl noch lange hinziehen.

Viel hängt an den Vereinigten Staaten

Mit Blick auf die Reaktivierung der Gerichtsbarkeit sowie die Ernennung eines neuen Generaldirektors kommt den amerikanischen Präsidentenwahlen im November entscheidende Bedeutung zu. Auch eine grundlegende WTO-Reform wird es nicht ohne konstruktive Haltung der weltgrößten Volkswirtschaft geben. Auf die Trump-Administration sollte man sicher nicht setzen, sie würde sich auch künftig lieber der handelspolitischen Großmachtpolitik zwischen den Vereinigten Staaten, China und der EU hingeben, als langwierige multilaterale Prozesse in Gang zu setzen und mühsam erreichte Kompromisse mitzutragen.

Doch auch der wahrscheinliche demokratische Kandidat Joe Biden ist nicht als überzeugter Freihändler bekannt. Erst kürzlich hat Biden eine mehr als 700 Milliarden Dollar schwere "Buy American"-Kampagne vorgeschlagen, die es auch schon unter Obama gab. Auch steht die amerikanische Bevölkerung im Umgang mit China weitgehend hinter Trump, der eine Politik der wirtschaftlichen Entkopplung verfolgt. Freilich wäre Washington ohne Trump wieder ein verlässlicherer Partner, Stil und Umgang miteinander würden respektvoller. Das dürfte das transatlantische Verhältnis verbessern. Zwischen der EU und den Vereinigten Staaten ist die Leistungsbilanz ohnehin fast ausgeglichen. Das liegt daran, dass EU-Überschüssen im Güterhandel amerikanische Überschüsse beim Handel von Dienstleistungen sowie die Gewinne von Konzernen mit rechtlichem Sitz in Irland (Apple) oder den Niederlanden (Starbucks) gegenüberstehen.

Ganz anders zeichnet sich das Bild der amerikanisch-chinesischen Beziehungen. Gerade in den Branchen, in denen die Vereinigten Staaten besonders exportstark sind, etwa bei digitalen Dienstleistungen, ist China besonders protektionistisch. Präsident Trump kritisiert zu Recht Marktzugangsbeschränkungen und den mangelnden Schutz geistigen Eigentums in China. Angesichts der starken Marktzugangsbeschränkungen seitens Chinas ist nicht zu erwarten, dass ein möglicher Präsident Biden besonders nachgiebig gegenüber China wäre.

Die WTO droht unterdessen zwischen den Supermächten China und Amerika zerrieben zu werden. Das erst im Januar zwischen den beiden geschlossene Teilabkommen sorgt zwar für einen Burgfrieden im Handelskonflikt. Der Kern des Abkommens sieht eine erhebliche Steigerung chinesischer Importe aus den Vereinigten Staaten vor. Dies geht aber zu Lasten Dritter, weshalb das internationale Handelsrecht aus guten Gründen staatlich gelenkten Handel verbietet.

Bilateralisierung des Freihandels

Dem Stillstand der multilateralen Verhandlungen zur Handelsliberalisierung begegnen viele Länder mit einer Bilateralisierung ihrer Handelspolitik. Seit 2001 kamen global 210 neue Handelsabkommen hinzu. Dies trifft auch auf die EU zu, die in den vergangenen Jahren eifrig neue Handelsabkommen schloss (etwa mit Singapur, Kanada, Japan, Mercosur, Vietnam) und weitere verhandelt (Australien). Dies ist nicht unproblematisch für das multilateral angelegte Welthandelssystem. Ein Grundsatz der WTO ist das Prinzip der Meistbegünstigung: Die EU darf gegenüber amerikanischen Exporteuren nicht einen anderen Zoll anwenden als gegenüber chinesischen oder indischen, es gelten also gleiche Regeln für alle. Abweichen von diesem Prinzip - und damit einen Handelspartner besserstellen - darf man nur beim Abschluss eines bilateralen oder regionalen Freihandelsabkommens. Darin müssen mindestens 90 Prozent des Handels vollständig liberalisiert, also ganz von Zöllen und Quoten ausgenommen werden. Durch solche bilateralen Handelsabkommen profitieren die teilnehmenden Länder, während die übrigen WTO-Mitglieder in der Regel schlechtergestellt werden.

Für Europa bietet sich ein gewichtiger Vorteil: Es kann in solchen Verhandlungen mit seiner Marktgröße von 450 Millionen kaufkräftigen Bürgern auftrumpfen und so die Abkommen mehr nach seinen Vorstellungen gestalten. Bedenkt man, dass moderner Freihandel nicht nur ein Absenken von Zöllen bedeutet, sondern auch ein Angleichen von Produktsicherheits- und Hygienestandards, Zulassungsverfahren, Anerkennung von geographischen Herkunftsbezeichnungen sowie den Zugang zu lokalen Dienstleistungs- und Beschaffungsmärkten einschließt, wird ersichtlich, warum die EU lieber bilateral verhandelt. Hier kann man sich mit ähnlich entwickelten Ländern schnell einigen und gegenüber weniger entwickelten Ländern auf die Anerkennung der eigenen Standards dringen.

Wie also soll es weitergehen mit der WTO? Zunächst einmal sollten Deutschland und die EU ein Interesse am Fortbestand der Organisation haben. Selbst wenn weitere Handelsliberalisierungen vorerst nicht zu erwarten sind, sind die WTO-Standards eine vergleichsweise gute Rückfalloption. Das wird anhand des Brexits deutlich: Ein No-Deal-Brexit, also ein Ausscheiden Großbritanniens ohne Handelsvertrag mit der EU, bedeutet, dass das Vereinigte Königreich und die EU künftig nach ihren WTO-Meistbegünstigungszöllen miteinander Handel trieben. Das ist schlecht im Vergleich zum momentanen Grad der wirtschaftlichen Integration, aber allemal besser, als wenn man einander ohne Vorhandensein von Meistbegünstigungszöllen diskriminieren und gegen andere Handelspartner ausspielen könnte.

Ernst nehmen sollten wir berechtigte Kritikpunkte der Vereinigten Staaten an chinesischen Handelspraktiken. Der Schutz geistigen Eigentums und gleiche Marktzugangsrechte sind auch im europäischen Interesse. Die Novellierung des deutschen Außenwirtschaftsgesetzes 2019 zeigt zudem, dass Deutschland gegenüber China Investitionsbarrieren hochfährt. Während der Ausschluss von Huawei aus dem 5G-Netz hierzulande leidenschaftlich diskutiert wird, nimmt niemand daran Anstoß, dass alle europäischen Anbieter vom Aufbau des chinesischen 5G-Netzes ausgeschlossen sind. Das jüngste Handelsabkommen zwischen den Vereinigten Staaten und China deutet darauf hin, dass die amerikanische Politik der Stärke zu erhöhter Verhandlungsbereitschaft Chinas geführt hat. Vielleicht böten sich Chancen, diese Erfahrungen unter einem neuen WTO-Chef und einem neuen amerikanischen Präsidenten in Zusammenarbeit mit anderen WTO-Mitgliedern zu nutzen.

Weiterhin sollte die EU ihre Anstrengungen intensivieren, mit den Vereinigten Staaten zumindest ein wenig ambitioniertes Handelsabkommen abzuschließen. Darin sollten alte Streitigkeiten, die seit jeher die WTO belasten (Hormonfleisch, Airbus-/Boeing-Subventionen), abschließend geregelt werden. Für Unternehmen dies- und jenseits des Atlantiks verringerten sich damit die handelspolitischen Risiken, die WTO geriete institutionell aus der Schusslinie. Und nicht nur für ein transatlantisches Abkommen, sondern auch ganz allgemein muss die EU einen Weg finden, wie sie ihren Agrarsektor mit Freihandel kompatibel machen kann. In der EU-Landwirtschaftspolitik darf es keine Denkverbote geben. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wäre ein Anlass, dieses Thema auf den Tisch zu bringen.

Der neue WTO-Generaldirektor steht vor vielen Herausforderungen: Nötig sind eine Reform der Streitbeilegung und die Entschärfung der Handelsspannungen, die Aktualisierung des Handelsrechts mit Blick auf digitale Dienstleistungen sowie auf eine CO2-Grenzbesteuerung, außerdem eine Wiederbelebung multilateraler Zollsenkungsrunden und stärkere Fokussierung auf die Marktöffnung im Dienstleistungshandel. Dazu kommen noch entscheidende "Soft"Komponenten: das Rückgewinnen von Vertrauen und Glaubwürdigkeit für die Organisation insgesamt. Wir wünschen ihm oder ihr dafür eine glückliche Hand und der WTO alles Gute zum 25-jährigen Jubiläum.

 

 

 

 

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Prof. Dr. Lisandra Flach

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